2-10 Gebrochenes Rad

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Gebrochenes Rad

Seit einigen Tagen ziehen A'shei und Silàn durch die Hügel und Dörfer Gerins. Sie sind nun schon fast einen Mond lang unterwegs. Das Sommerwetter ist ihnen freundlich gesinnt. Es regnet selten und wenn, dann ist es meistens ein kurzes Gewitter, das rasch vorüberzieht und eher erfrischend als störend wirkt. Die Landschaft hier ist lieblicher als zu Hause in Atara, der Boden reicher, das Klima freundlicher. Die Obstbäume tragen zahlreiche Früchte, das goldene Getreide ist bald reif zur Ernte. Allerdings kommen die beiden Wanderer nicht dazu, diese Schönheit zu genießen. Sie versuchen, möglichst wenig Kontakt mit Menschen zu haben und nicht aufzufallen. Dies ist in dieser dicht besiedelten Gegend schwierig. Selbst die Wälder machen hier einen ordentlichen und aufgeräumten Eindruck. Sie begegnen immer wieder Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern, Kindern beim Viehhüten oder Holzsammeln und Händlern, die mit ihren Waren zum nächsten Markt unterwegs sind. Wenn sie einer Begegnung nicht ausweichen können, gehen sie offen auf die Fremden zu, grüßen freundlich und fragen nach dem Weg zu einem der nächsten größeren Orte. Auf A'sheis Anraten hin geben sie sich als wandernde Tannarí aus, die eine Verwandte besuchen wollen, die in der Gegend lebt. Bis jetzt sind sie mit dieser Geschichte ganz gut durchgekommen und wurden sogar schon zweimal zu einer Mahlzeit eingeladen. Silàn wird zwar den Verdacht nicht los, dass die betreffenden Bauern nicht ganz uneigennützig handelten, scheint doch den Tannarí der Ruf anzuhaften, auch mal fremdes Eigentum mitzunehmen. Immerhin, es ist gut, zwischendurch neben Fisch, Wild und aufgelesenem Fallobst ein Stück Brot oder sogar Käse zwischen die Zähne zu bekommen.
Am schwierigsten ist es, gute Rastplätze zu finden. Sie schlafen jeweils tagsüber einige Stunden und schalten nachts eine zweite Rast nur für A'shei ein. Er braucht mehr Schlaf als Silàn und sie will nicht zuzulassen, dass er sich übernimmt. Am Tag ist die Gefahr, von Femolais Spähern entdeckt zu werden, geringer. Deshalb suchen sie sich einen geschützten Platz und legen sich beide hin. Nachts hält Silàn Wache. Oft wird ihr dabei die Zeit lang und sie sehnt sich danach, magische Übungen zu machen oder mit den Xylin zu plaudern. Aber es ist zu gefährlich, mit Magie auf sich aufmerksam zu machen. Und die Xylin meiden so dicht bewohnte Gegenden. Sie beginnt deshalb, mit ihrem Gürtelmesser zu schnitzen. Wenn nötig bereitet sie neue Pfeilschäfte vor. A'shei meint, ihre seien besser und regelmäßiger als die seinen. Dazwischen arbeitet sie aber an einem eigenen Projekt. Die Idee dazu gab ihr ein seltsam geformtes, gedrehtes Holzstück, das sie am Wegrand fand. Sie hätte es gern Andres mitgebracht, er liebt solch speziellen Formen und würde daraus bestimmt ein Schmuckstück gestalten. Nun versucht sie es selber. A'shei beobachtet sie eines Tages dabei und meint nach einer Weile, sie habe das Talent ihres Vaters geerbt. Das erfüllt Silàn seltsamerweise mit Stolz. Sie konnte nur sehr wenig Zeit mit Andres verbringen und würde viel darum geben, den Vater besser kennenzulernen. A'shei, der seine eigenen Eltern nie kannte, versteht ihren Schmerz und ist trotzdem ein wenig eifersüchtig, dass sie einen Vater und eine Schwester besitzt, selbst wenn sie beinahe unerreichbar in einer anderen Welt leben.

Inzwischen nähern sie sich dem Fluss Haon. Der Name bedeutet ‹der Ewige›. Als sie zum ersten Mal von einem sanften Hügel in der Keleniebene aus sein breites, silbernes Band im Abendlicht glänzen sehen, findet Silàn, dass der Name passend ist. Majestätisch und unberührt fließt das große Wasser durch einen breiten, kaum bewohnten Gürtel aus Sumpfland. Die Menschen bauen ihre Dörfer lieber entfernt vom Fluss, damit die Häuser nicht bei jedem größeren Unwetter überschwemmt werden. Außerdem gibt es im Sumpfland Mücken und andere Insekten, welche ansteckende Fieber übertragen. Niemand lebt freiwillig hier, außer den Kaedin. A'shei meint, in dieser Gegend würden sie fast sicher auf weitere der kleinen Dunkelheiten treffen. Silàn fröstelt bei dem Gedanken. Sie erinnert sich zu gut an das Erlebnis mit dem ersten Kae, das unheimliche Gefühl von Angst, das es in sie hineinprojizierte. Zu wissen, dass die Kaedin mit Femolai verbündet sind, macht es nicht besser. Sie fragt, wie sie den großen Fluss überqueren wollen. A'shei wirkt nachdenklich.
«Es gibt eine Fähre, etwas südlich von hier beim Dorf Zalkenar. Aber wir müssen die Überfahrt bezahlen. Antim gab mir etwas Geld, ich hoffe, es reicht dafür. Möglicherweise verlangen sie von uns mehr, weil sie uns für Tannarí halten.»
Silàn seufzt. Dieser Hass zwischen Keleni und Tannarí scheint ihr überflüssig und sinnlos. Was bedeutet schon die Haar- oder Augenfarbe? Und dabei kann sie noch froh sein, dass sie selber als Tanna angesehen und nicht als Tochter der Nacht erkannt wird.
«Falls ich tatsächlich einmal Königin der Nacht werde, setze ich alles daran, diesen nutzlosen Streit um die Haarfarbe beizulegen.»
Es ist ihr ernst mit diesem Versprechen. A'shei meint versonnen, das werde bestimmt eine langwierige Aufgabe.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt