1-4 Familienleben

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Familienleben

An diesem Abend kommt Bettina rechtzeitig nach Hause, um Angie beim Tischdecken zu helfen. Diese erzählt begeistert vom Einkaufsbummel, offenbar war da ein Markt mit unzähligen Attraktionen. Bettina fragt höflich nach, was ihr gefallen habe und schafft es, die Cousine in ein angeregtes Gespräch zu verwickeln, so dass niemand nach Bettinas Zeitvertreib fragt. Sie ist erleichtert, dass auch der Vater nicht wissen will, wo sie sich den ganzen Tag herumtrieb. Nur ihre zerrissene und schmutzige Hose veranlasst die Tante zu strengen Worten. Bettina verspricht, zukünftig auf ihre Sachen achtzugeben. Als sie aber fragt, ob sie nach dem Essen noch einmal nach draußen dürfe, erfährt sie die erwartete Enttäuschung. Tante Judith hat sich in den Kopf gesetzt, Bettina zu zeigen, was eine richtige Familie ist und erklärt den Samstagabend kurz entschlossen zum Familienabend. Die Kinder sollen Gesellschaftsspiele machen, während die Erwachsenen Kaffee trinken und lesen. Bettina hat keine Lust, vor allem, weil Stefan schummelt und damit Angie zum Heulen bringt. Deshalb erklärt sie um neun, sie sei müde und gehe ins Bett. Sie sitzt noch lange am Fenster und überlegt, ob sie nicht einfach hinausklettern soll, um in den Wald zurückzukehren. Aber inzwischen weht ein kräftiger Wind und der Himmel ist bedeckt, es ist dunkel und etwas unheimlich. Als es schließlich zu regnen beginnt, verkriecht sie sich in ihr Bett und ist bald darauf eingeschlafen.

Es regnet die ganze Nacht und hört auch am Sonntagmorgen nicht auf. Das gemeinsame Frühstück verläuft ruhig. Aber weil die Tante darauf besteht, zur Kirche zu gehen, ist es mit dem Frieden bald vorbei. Stefan und Angie haben keine Lust, sich eine langweilige Predigt anzuhören und schieben die Schuld dafür Bettina zu. Vermutlich haben sie sogar recht und dieser Ausflug gehört zum «Integrationsprogramm», wie Bettina inzwischen Judiths Versuche nennt, ihr ein glückliches Familienleben vorzuführen. Auf dem Weg ins Dorf sucht sie unter dem Regenschirm des Onkels Schutz. Als sie ihm gegenüber vorsichtig ihren Verdacht erwähnt, lacht er herzlich. Besonders der Begriff «Integrationsprogramm» tut es ihm an. Er empfiehlt Bettina, Geduld mit der Tante zu haben. Sie werde schon wieder mit dem Zirkus aufhören, meint er. Bettina hofft inständig, dass er recht hat.

Der Tag vergeht schleppend. Weil es auch nachmittags noch regnet, verzieht sich Bettina mit einem Buch in ihr Zimmer. Es ist eines ihrer Lieblingsbücher, das sie bestimmt schon ein dutzend mal gelesen hat. Aber heute vermag die Geschichte sie nicht zu fesseln. Immer wieder muss sie an den gestrigen Ausflug denken, der eigentlich gar nicht in ihrem Wald sondern in einer angrenzenden Welt stattfand, wenn sie das richtig versteht. Ob es dort heute auch regnet? Vielleicht scheint hinter dem Tor die Sonne? A'shei behauptete, die Welten würden sich nur am Spiegel berühren, also ist es möglich, dass das Wetter drüben völlig anders ist. Sie steht auf und zieht ihre Regenjacke an. Als sie unten erklärt, sie mache einen Spaziergang, beschließt Angelika spontan, mitzukommen. Da sie mit ihren Quengeleien alle nervös macht, hält die ganze Familie das für eine gute Idee. Bettina traut sich nicht, die unerwünschte Begleitung abzulehnen und möchte Angie nicht verletzen. Deshalb ziehen sie zu zweit los.
«Wohin gehen wir?»
Bettina schlägt zielstrebig die Richtung zum Wald ein und setzt alles auf eine Karte.
«In den Wald. Ich habe neulich einen Jungen getroffen. Vielleicht kennst du ihn? Er heißt A'shei.»
Angie weiß nichts von einem Jungen mit diesem seltsamen Namen. Aber sie plaudert lustig drauf los und erklärt Bettina, wer wo in der Nachbarschaft wohnt und mit wem zur Schule geht. Bettina hört nur halb zu. Sie versucht das Tor zu finden. Aber da ist nichts. Das schwarze Eichhörnchen sitzt auf dem Ast einer großen Eiche, fast genau an der Stelle wo Bettina es das erste Mal beobachtete. Angelika freut sich an dem Tierchen, aber Bettina, die inzwischen das Tor sucht, ist enttäuscht. Der Weg führt zwischen den beiden Eichen hindurch, macht dann aber eine Kurve und erreicht nach einer kurzen Strecke wieder den Waldrand. Langsam versteht sie, was A'shei mit dem Spiegel meint. Es ist, als würde der Weg von einer unsichtbaren Wand abgelenkt. Nachdenklich mustert sie Angie. Ob das an der Begleitung der Cousine liegt oder ob der Spiegel einfach an gewissen Tagen verschlossen bleibt?
Regenwasser tropft von den Bäumen und die beiden Mädchen werden nass. Trotzdem haben sie noch keine Lust, zurückzugehen. Angie genießt es, Stefans Hänseleien entkommen zu sein und die ältere Cousine für sich zu haben. Sie gehen deshalb einfach am Waldrand weiter. Der Weg führe in einen alten Steinbruch und von dort gäbe es eine Abkürzung zurück ins Dorf, meint Angie. Sie diskutieren Bücher, die sie beide gelesen haben und Schulfächer, die sie gern oder weniger gern mögen. Schließlich erzählt Bettina sogar von ihren Freundinnen in der Stadt. Es tut gut, ihren Kummer in Worte zu fassen und die Cousine versteht sogar, dass sie lieber dorthin zurückkehren möchte. Die Mädchen kommen erst nach zwei Stunden zurück, völlig durchnässt. Aber seltsamerweise hat es Bettina Spaß gemacht, mit der über drei Jahre jüngeren Angie unterwegs zu sein.

Nach dem Essen entschuldigt sie sich und geht auf ihr Zimmer. Der Regen hört auf und ein bleicher Vollmond zeigt sich zwischen dahinjagenden Wolkenfetzen. Bettina steht am Fenster und schaut hinüber zum Waldrand. Ob sie es noch einmal versuchen soll? Ihre nasse Regenjacke und die durchweichten Schuhe trocknen in der Waschküche. Sie zieht deshalb nur einen Pullover über und ihre Sandalen. Im Gras und auf dem Feldweg würden Schuhe sowieso sofort nass. Dann klettert sie vorsichtig aus dem Fenster. Ihr Zimmer liegt im ersten Stock, aber wenn sie es richtig macht, kann sie vom Fensterbrett aus mit dem linken Fuß das Dach des Anbaus erreichen. Dort wohnt niemand, so dass ihre Schritte auf dem Blechdach ungehört bleiben. Gegenüber steht ein alter Apfelbaum ganz nah am Anbau. Über seine dicken Äste kann sie gefahrlos in den Garten hinunterklettern. Nun muss sie nur aufpassen, dass sie niemand vom Wohnzimmer aus sieht. Sie rennt eilig den Pfad zum Wald hinunter. Der Mond gibt genügend Licht, um den Pfützen auf dem Weg auszuweichen.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt