1-8 Antim

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Antim

«Ich komme nicht mit in die Stadt. Ich bin mit A'shei und seinem Grossvater verabredet. Wir gehen angeln.»
Bettina hat sich genau zurechtgelegt, was sie an diesem Samstagmorgen sagen will. Die Familie plant den Einkaufsbummel seit Tagen und sie hofft, dass es ihr gelingt, stattdessen den ganzen Tag mit A'shei zu verbringen. Der Vater ist nicht begeistert, Bettina brauche einiges an neuen Kleidern, meint er. Tante Judith unterstützt ihn, ihre Schuhe seien unpassend für die Schule. Stefan, der sich seit Tagen auf den Ausflug freut, beklagt sich nun bitter, dass ausgerechnet Bettina als Mädchen angeln gehen darf, während er mit in die Stadt soll. Bettina will schon aufgeben, als Onkel Andres einschreitet.
«Lasst sie doch hierbleiben. Ihr beide habt euch mindestens ein Dutzend Mal darüber beklagt, dass sie keine Freunde findet. Und nun, wo sie zum ersten Mal eingeladen ist, wollt ihr sie nicht hingehen lassen.»
Judith ist empört.
«Wir kennen diesen Jungen nicht einmal. Wo wohnt er überhaupt? Ich habe den Namen noch nie gehört.»
Da kommt unerwartet Angelika Bettina zu Hilfe.
«Er wohnt gleich hinter dem Wald. Er ist ein Freund von Tina. Wenn er mich zum Angeln einladen würde, möchte ich auch hingehen.»
Andres nimmt den Faden seiner Tochter nahtlos auf.
«Genau. Ich bin außerdem sicher, dass ich seinen Großvater kenne. Macht euch inzwischen bereit. Tina, komm, zeig mir auf der Karte wo dein Freund wohnt.»
Andres schließt hinter sich und Bettina die Tür seines Arbeitsraumes und schaut das Mädchen fragend an.
«Nun, was hat es mit dieser Geschichte auf sich? Wo genau wohnt dieser A'shei? Angelika weiß ganz genau, dass ‹gleich hinter dem Wald› niemand wohnt.»
Bettina seufzt.
«Angie wollte mir helfen. A'shei wohnt im Wald bei seinem Großvater. Aber ich weiß nicht wo genau, ich war noch nie dort. Und wie er heißt weiß ich auch nicht.»
«Drüben im Wald. Warum sagst du nicht gleich ‹hinter dem Spiegel›?»
Das Mädchen starrt den Onkel erschrocken an. Ihre Stimme ist heiser und versagt beinahe.
«Du weißt vom Spiegel?»
«Tina, ich kannte deine Mutter. Sie hat mir einiges erzählt. Und manches an dir erinnert mich stark an Tanàn.»
«Du nennst sie Tanàn, nicht Tamara wie Vater.»
Bettina stellte den Unterschied sehr nüchtern fest.
«Tanàn ist ein schöner Name. Nur weil dein Vater sie Tamara nannte, muss ich mich ihm nicht anschließen. Du warst also tatsächlich beim Spiegel.»
«Beim Spiegel und in der Welt dahinter. A'shei hat mir vieles gezeigt. Er will mich heute Antim vorstellen. Bitte lass mich gehen, es ist für mich sehr wichtig.»
«Antim, Schattenwandler vom Berg. Tanàn hatte vor ihm große Achtung. Er muss inzwischen sehr alt sein, wenn er immer noch lebt.»
Andres schaut das Mädchen nachdenklich an. Bettina blickt betreten zu Boden.
«Wie könnte ich dir verbieten, deinem Schicksal zu folgen? Aber das nächste Mal sagst du mir von Anfang an die Wahrheit, versprich mir das, Bettina.»
«Silàn, drüben nennen sie mich Silàn. Meine Mutter schenkte mir diesen Namen. Versprichst du, mir alles über sie zu erzählen? Du scheinst einiges mehr über sie zu wissen als mein Vater.»
«Versprochen. Aber los jetzt, bevor die anderen ungeduldig werden. Wir sehen uns heute Abend. Alles Gute, Silàn-Tochter-von-Tanàn.»

Kurz darauf ist Bettina gedankenverloren unterwegs in den Wald. Sie trägt Turnschuhe, ein altes Paar Jeans und eine Windjacke über einem langen T-shirt. Vielleicht nicht ganz passend, um einen Schattenwandler zu besuchen, denkt sie. Aber daran würde auch eine Einkaufstour mit Tante Judith nichts ändern. Dass Onkel Andres so viel über ihre Mutter und ihre Heimatwelt weiß, überrascht sie. Ihr Vater hat von alldem bestimmt keine Ahnung. Oder täuschte er sie all die Jahre? Sie muss unbedingt so bald wie möglich mit Onkel Andres sprechen. Aber zuerst steht ihr der Besuch bei Antim bevor. In den letzten Tagen war sie nur einmal mit A'shei unterwegs. Das Wetter war schlecht, so dass sie den Xylin nicht begegneten. Und so kurz vor Neumond war auch mit Silmira nicht zu rechnen. A'shei zog mit ihr durch den Wald und beantwortete zahllose Fragen. Dann suchten sie unter einer dichten Tanne Schutz vor dem stärker werdenden Regen und saßen schweigend nebeneinander. Seltsamerweise fühlte sich Bettina zufrieden und geborgen. A'shei bemerkte schließlich, in zwei Tagen erwarte er Antim zurück. Der Junge freute sich darauf, sie seinem Lehrer vorzustellen. Bettina war aber bei dem Gedanken daran, den Schattenwandler zu treffen, nicht ganz wohl zumute.
Aber heute morgen scheint die Sonne und A'shei wartet am Tor.
«Silàn, guten Tag! Antim ist letzte Nacht zurückgekehrt. Er wartet auf uns.»
Seine gute Laune und die offensichtliche Freude über das Wiedersehen lassen Bettina ihre Bedenken vergessen. Fröhlich plaudernd wie alte Freunde machen sie sich auf den Weg. Antim wohnt eine gute Wegstunde vom Tor entfernt. Inzwischen ist es richtig Frühling und der Wald zeigt überall neues Grün. Nach einem kurzen, aber steilen Aufstieg erreichen sie das Hochtal, in dem das kleine Haus des Schattenwandlers steht. Es ist aus grob zugeschlagenen Baumstämmen in Blockbauweise zusammengefügt und kauert zwischen großen Tannen am Fuß einer Felswand. Ein Bach fließt unweit davon durch grüne Wiesen. Über dem Schindeldach kräuselt sich der Rauch eines Feuers.
«Hier ist es wunderschön. Du bist hier aufgewachsen?»
«Ja, so lang ich mich erinnern kann. Schön dass es dir gefällt. Komm, Antim hat sicher Tee für uns bereit.»
Nun ist Bettina trotz aller Neugier wieder unsicher. Zögernd bleibt sie an der Tür des Hauses stehen. Der Türrahmen ist niedrig, A'shei muss sich bücken um in den düsteren Raum dahinter einzutreten. Er fasst Bettinas Hand und zieht sie mit sich in eine bis ins Dachgeschoss offene Küche. Auf einem Herd aus flachen Steinen brennt ein kleines Feuer. Ein alter Mann ist damit beschäftigt, Kräuter in einen Kessel zu streuen, der an einer Kette über dem Feuer hängt. Bei ihrem Eintreten richtet er sich zu seiner vollen Größe auf. Er ist schlank und steht sehr gerade. Sein langes weißes Haar ist im Nacken zu einem Zopf geflochten, das Gesicht sonnenverbrannt und faltig. Die blauen Augen mustern die Besucherin nachdenklich.
A'shei neigt vor dem Schattenwandler den Kopf.
«Antim, das ist Silàn-die-durch-den-Spiegel-kam. Ich habe dir von ihr erzählt. Silàn, das ist Antim vom Berg, der mich in sein Haus aufnahm.»
Antim nickt dem Mädchen freundlich zu.
«Silàn. Es ist lange her, seit ich diesen Namen hörte. Mondnamen sind selten in diesen Tagen. Kommt, setzen wir uns in die Sonne. Der Tee ist gleich fertig. Du musst mir mehr von dir erzählen, Silàn-aus-einer-anderen-Welt.»
Mit einem hölzernen Schöpfer füllt er drei Tonbecher mit Flüssigkeit aus dem Kochkessel und reicht Silàn und A'shei je einen. Sie setzen sich nebeneinander auf die Bank vor der Tür. Das Mädchen ist froh, dass A'shei in der Mitte sitzt. Obwohl sie das dem Jungen gegenüber nie zugeben würde, hat sie viel Respekt und etwas Angst vor dem alten Mann. Dieser nimmt vorsichtig einen Schluck von dem heißen Getränk und streckt seine langen Beine aus.
«Nun, Silàn. A'shei meint, du seist durch den Spiegel gekommen. Das ist ziemlich ungewöhnlich, noch ungewöhnlicher als dein Name.»
Bettina weiß nicht, was sie darauf sagen soll. Antim scheint ihre Verunsicherung zu spüren und lacht leise vor sich hin.
«Antim, du alter Narr. Wartest eine halbe Ewigkeit darauf, dass sich der Spiegel öffnet, und wenn er es tut, fällt dir nichts besseres ein, als deinen Gast zu erschrecken. A'shei, ich glaube ich muss mich bei dir bedanken, dass du dich Silàn gegenüber besser benommen hast. Silàn, verzeih mir. Erzähl uns deine Geschichte, ich möchte sie wirklich gerne hören.»
«Nun, ich weiß auch nicht, was genau passierte. Ich ging in den Wald und begegnete A'shei. Ich bin nichts besonderes in meiner Welt. Ich heiße Bettina und wohne bei der Familie meiner Tante in dem Dorf gleich am Waldrand. Von meinem Vater weiß ich, dass ich im Wald geboren wurde und dass meine Mutter kurz nach der Geburt starb. Silmira behauptet, meine Mutter heiße Tanàn und sie habe mich in der Nacht meiner Geburt Silàn getauft. Bis heute war ich mir nie sicher, ob sie mich nicht mit jemandem verwechselt. Aber nach dem, was mein Onkel Andres mir heute morgen erzählte, glaube ich mittlerweile, dass Silmira die Wahrheit sagt.»
A'shei ist erstaunt.
«Dein Onkel? Was hat er damit zu tun?»
«Ich weiß nicht. Auf jeden Fall scheint er mehr zu wissen als Vater. Er bestätigt, dass meine Mutter Tanàn hieß und nicht Tamara. Und er wusste vom Spiegel. Er kannte sogar deinen Namen, Antim. Er nannte dich den Schattenwandler-vom-Berg.»
«Das ist allerdings seltsam.»
Antim nimmt einen Schluck von seinem Tee und schüttelt nachdenklich den Kopf.
«Eigentlich kann nur Tanàn ihm vom Spiegel und von mir erzählt haben. Aber warum ihm und nicht deinem Vater?»
Bettina weiß darauf keine Antwort. Sie probiert den Tee. Er ist süß und hat einen rauchigen Geschmack. Sie mag das. Antim scheint schon weniger fremd und angsteinflößend. Sie nimmt allen Mut zusammen, um eine Frage zu stellen.
«Darf ich etwas fragen?»
«Fragen sind die Saatkörner der Weisheit. Was möchtest du wissen, Silàn?»
Der alte Mann schmunzelt freundlich. Bettina lächelt schüchtern zurück.
«Was ist ein Schattenwandler?»
«Das ist eine interessante Frage. Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Die Leute unten im Dorf würden mich einen Zauberer nennen. Aber für sie fallen auch Silmira, A'shei und du selbst in diese Kategorie, denn alle Kräfte, die sie nicht verstehen, gelten als Zauberei. Aber während Silmiras Kraft aus dem Mondlicht stammt, beruht meine auf dem Spiel von Licht und Schatten. Wenn du länger hier bist und deine eigene Kraft weckst, wirst du mehr davon verstehen.»
«Ich habe noch nie eine besondere Kraft bemerkt.»
«Deine Kraft ist die Kraft der Nacht, ein Erbe deiner Mutter. Du hast noch nicht genug Zeit hier verbracht, um sie zu entwickeln. Aber dass sich der Spiegel für dich öffnet zeigt deutlich, dass du sie in dir trägst. Nun, genug geredet. Ich habe noch im Haus zu tun und A'shei möchte dir bestimmt unseren Garten zeigen. Danach fängt er uns vielleicht Fisch zum Mittagessen?»
«Silàn kann das schon fast so gut wie ich!»
A'shei trinkt rasch seinen Becher leer und bedeutet dem Mädchen, ihm zu folgen. Der Garten neben dem Haus ist mehr als doppelt so groß wie dieses. Dem Jungen ist anzumerken, wie stolz er darauf ist. Neben Gemüse und Beeren gibt es vor allem Heilkräuter. Obwohl jetzt im Frühling noch etwas karg, ist Bettina beeindruckt, wie ordentlich alles angelegt ist und wieviel ihr Begleiter über die verschiedenen Pflanzen zu erzählen weiß. Tante Judith könnte von ihm einiges lernen, denkt sie.
Am Bach zeigt ihr A'shei die großen Felsblöcke, unter denen sich die Fische gern verstecken. Es ist nicht einfach, sie mit der bloßen Hand zu fangen. Vor allem ist es wichtig, keinen Schatten auf die Tiere zu werfen, damit sie den Jäger nicht wahrnehmen. A'shei und Bettina waten langsam und sehr vorsichtig durch das seichte Wasser. Der Junge bedeutet Bettina, es zuerst zu versuchen. Kurzentschlossen packt sie zu und erwischt tatsächlich einen der schlüpfrigen Körper. Vor Schreck lässt sie ihn aber gleich wieder los und stürzt hintenüber in den Bach. Die andern Fische suchen natürlich sofort das Weite. A'shei lacht fröhlich und wird dafür prompt nassgespritzt. Nach einer kurzen, aber heftigen Wasserschlacht suchen sie eine andere Stelle, etwas weiter oben am Bach. Diesmal gelingt es Bettina, den Fisch ans Land zu werfen. Es tut ihr leid, das farbig schillernde Tier zu töten. Aber soviel hat sie inzwischen von ihrem Freund gelernt: Wer in seiner Welt essen will, muss dafür etwas tun. Es gibt keinen Supermarkt und keine Tiefkühlprodukte. Rasch fängt der Junge zwei weitere Fische. Mit einem Speer wäre es einfacher, meint er. Aber er liebt es, auf diese Art seine Geschicklichkeit zu testen. Mit seinem Gürtelmesser nimmt er die Tiere aus. Die schillernden Farben der Fischkörper sind inzwischen verblasst, sie wirken stumpf und grau.
Zurück beim Garten pflückt A'shei Kräuter zum Würzen. Antim hat inzwischen Teig für Fladenbrot angerührt. Die einfache Mahlzeit schmeckt herrlich. Beim Aufräumen erklärt Antim, was er am Nachmittag vor hat.
Zusammen steigen sie auf den Gipfel des Berges, der das kleine Tal überragt. Von hier bietet sich eine wunderschöne Aussicht. Antim brachte Silàn mit einer bestimmten Absicht hierher.
«Silàn, Tochter von Tanàn, siehst du jene Gipfel? Das Tal dahinter heißt Silita und darin liegt Silita-Suan, die Heimat deiner Ahnen.»
Bettina studiert die schwarz gezackte Bergkette, die sich im Dunst jenseits der grossen Ebene über bewaldeten Hügeln erhebt. Das Silitatal scheint ihr sehr fern und die Gegend rau. Ganz am Horizont erhebt sich eine Kette von tief verschneiten Gipfeln majestätisch in den Himmel. Reihe auf Reihe von Bergen erstrecken sich von da aus nach Süden, bis sie im Dunst verschwinden. Antim folgt ihrem Blick.
«Das sind die Frostberge. Manche nennen sie die kalten Höhen. Die meisten Gipfel sind auch im Sommer verschneit und nur wenige begehbare Pässe führen in die südlichen Hochebenen.»
«A'shei hat mir davon erzählt. Aber ich wusste nicht, dass Silita so weit entfernt liegt.»
«Nun, ganz so weit ist es nicht. Du kannst Silita-Suan in rund zwei Monden erreichen, wenn du zügig unterwegs bist.»
«Wenn du es sehen möchtest, werde ich dich begleiten.»
Bettina muss über A'sheis spontanes Angebot lachen, als sie sich die Reaktion zuhause vorstellt.
«Ich möchte Tante Judiths Gesicht sehen, wenn ich ein paar Monate verschwinde. Sie wollte mich schon heute nicht allein losziehen lassen.»
Antim mustert das Mädchen nachdenklich. Dann lässt er sich auf einem Stein nieder und bedeutet den beiden, sich zu ihm zu setzen.
«Silàn, du erreichst schon bald das Alter, wo dir niemand mehr etwas zu sagen hat. Du wirst selber entscheiden müssen, welcher Welt du zugehörst. Silmira mag wissen, was in der Zukunft geschieht. Aber für uns sind die Tage, die kommen, leere Seiten in einem Buch. Ich bin überzeugt, dass du deine eigene Geschichte mit sicherer Hand schreiben wirst. Vielleicht liegt dein Weg in jener Welt, die uns Tanàn nahm. In diesem Fall nützt dir mein Rat nichts. Falls dein Weg aber in unserer Welt verläuft, sei gewiss dass du viele Freunde finden wirst. Aber es wird andere geben, die dir dein Erbe neiden und die sich gegen dich stellen. Vor ihnen sei auf der Hut. Noch weißt du zuwenig über diese Welt und ihre Regeln und Gesetze. Noch weiß kaum jemand, dass das Haus Silita eine Erbin hat. Noch hast du Zeit, manches verstehen zu lernen und dich zu entscheiden, wohin dein Weg führen soll. Ich werde deine Fragen beantworten, so gut ich es vermag. Aber was in dir verborgen ist, kannst nur du selber entdecken, Tochter der Nacht.»
Das Mädchen denkt lange über die Worte des alten Mannes nach.
«Ich weiß nicht, was ich tun soll. Vater und Tante Judith behandeln mich meistens wie ein Kind. Ihr hier, Silmira und nun sogar mein Onkel akzeptiert mich als euresgleichen. Wenn ich hier bin, scheint mir die andere Welt nur wie ein Schatten. Aber ich bin dort aufgewachsen, sie sind meine Familie. Ich kann nicht einfach weglaufen.»
«Das verlangt niemand von dir. Aber wähle deine Schritte vorsichtig, es kann sein, dass dir der Spiegel den Weg hierher nicht immer so freundlich freigibt wie bisher. Es gibt Wesen, die es begrüßen würden, wenn das Haus Silita für immer erloschen wäre und die gerne das Reich der Nacht beherrschen möchten.»
«Femolai.»
«Richtig, A'shei. Femolai ist eine davon. Aber sie ist nicht die einzige, die sich gern Königin der Nacht nennen würde. Sie ist allerdings eindeutig die mächtigste Kandidatin und steht dem Sonnenkönig Pentim nahe. Das macht sie gefährlich und manche Wesen der Nacht unterstützen ihren Anspruch. Trotzdem, sie weiß bisher nichts von Silàn und das wird hoffentlich noch eine Weile so bleiben. Du musst wissen, dass es dir freisteht, dein Erbe anzutreten. Wenn du es tust, werden die meisten Wesen der Nacht deinen Anspruch anerkennen. Einige haben sich aber daran gewöhnt, dass es keine Königin gibt und sich Freiheiten herausgenommen, die allen schaden. Sie werden sich gegen dich stellen und zu Femolai oder einer anderen Usurpatorin halten, die ihnen ihre Gunst verspricht. Deshalb wird dein Weg nicht einfach.»
«Ich bezweifle immer mehr, dass es eine gute Idee wäre, dieses Erbe anzutreten. Ich bin gerade mal fünfzehn und habe von dieser Welt und ihrer Politik nicht die geringste Ahnung. Mir genügt es, mit A'shei durch den Wald zu ziehen und den Xylin zu plaudern.»
Antim lächelt ob dieser ahnungslosen Bemerkung.
«Niemand außer dir kann verstehen, was die Xylin sagen. Schon dass sie zu dir kommen zeigt, dass du etwas Besonderes bist. Aber genug geredet, niemand verlangt heute eine Entscheidung. Lasst uns nachsehen, ob die jungen Adler bereits geschlüpft sind!»
Später, als sie vor Antims Haus zusammensitzen und je an einem großzügigen Stück Nusskuchen knabbern, kommt Bettina noch einmal auf eines der Themen zu sprechen, die sie am meisten beschäftigen.
«Du hast gesagt, dass ich von meiner Mutter eine Kraft geerbt habe. Was meintest du damit?»
«Wie deine Mutter trägst du die Kraft der Nacht und des Mondes in dir. Spätestens sobald du volljährig bist, kannst du sie ausschöpfen. Als Tochter von Silita könntest du ab diesem Zeitpunkt das Amt der Königin der Nacht übernehmen. Wenn du mir erlaubst, werde ich dir zeigen, wie du damit umgehen kannst. Silmira wird dir bestimmt auch helfen. Ihre eigene Kraft kommt aus dem Mondlicht und ist eng mit deiner verwandt. Femolai dagegen bezieht ihre Macht aus der Finsternis, was vermutlich eine andere Quelle ist. Heute ist Neumond, aber wenn du in einer der nächsten Nächte herkommst, kann ich versuchen, dir zu zeigen, was du vermagst.»
A'shei räuspert sich, um das Gespräch mit einer Bemerkung zu unterbrechen.
«Wir haben Silmira versprochen, sie in der ersten Nacht nach Neumond hier bei dir zu treffen. Sie wollte bis dahin Silita-Suan besuchen.»
«Das wäre morgen Nacht. Wirst du hier sein können, Silàn?»
«Wenn gerade Neumond war, geht der Mond sehr früh unter. Ist Silmira nur unterwegs während der Mond am Himmel steht oder auch noch später?»
Der Mond und seine Phasen haben Bettina immer interessiert. Deshalb weiß sie besser als ihre Schulkolleginnen, dass nach dem Neumond die Sichel fast den ganzen Tag am Himmel steht und dann abends untergeht. Antim bestätigt ihre Vermutung.
«Silmira ist Nsil. Sie besitzt nur im Mondlicht einen Körper. Der Mond mag von Wolken verdeckt sein, aber sobald er hinter dem Horizont verschwindet oder die Sonne am Himmel steht, wirst du keinen Nsilí begegnen.»
«Ich muss also eine Ausrede finden, um bereits nachmittags hierher zu kommen. A'shei, könntest du mich zuhause abholen?»
Der Junge schüttelt den Kopf.
«So gern ich möchte, ich kann von der Welt hinter dem Spiegel zwar ein kleines Stück sehen, es aber nicht betreten. Ich habe es versucht. Das ist für dich allein.»
Bettina will versuchen, morgen noch einmal herzukommen. Versprechen kann sie es aber nicht, zu gut kann sie sich den Ärger vorstellen, den sie sich damit wieder einhandelt. A'shei begleitet sie zurück zum Spiegel. Unterwegs ist Bettina nachdenklich. Sie versucht, in Worte zu fassen, weshalb sie sich davor fürchtet, das Erbe ihrer Mutter anzutreten und ihre bekannte Welt zu verlassen. A'shei ist ein verständnisvoller Zuhörer. Trotzdem bittet er sie inständig, morgen wiederzukommen. Sie will alles daran setzen.

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