3-8 Hinter dem Spiegel

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Hinter dem Spiegel

Talisha sieht sich mit halb geschlossenen Augen im düsteren Thronsaal um. Sehnsüchtig denkt sie an ihren letzten Ausflug in die Wälder von Nirah, der leider schon viel zu lange zurückliegt. Nun ist sie wieder in den trostlosen Mauern Peniras eingeschlossen. Noch schlimmer, im königlichen Palast, wo sie wie immer das Gefühl hat, zu ersticken. Nicht zum ersten Mal fragt sie sich, ob die Vorteile, zu Femolais engsten Vertrauten zu gehören, die Nachteile dieser Beinahegefangenschaft aufwiegen.
Die Königin der Dunkelheit ist abwesend und der Saal wirkt leer und kalt. Talisha schüttelt sich und rollt sich unter einem der Fenster aus farbigem Glas zusammen. Das Sonnenlicht malt bunte Flecken auf den Boden und wärmt ihr dichtes weißes Fell. Staubpartikel tanzen träge in den Sonnenstrahlen. Schläfrig schließt die Wölfin die Augen. Sie sehnt sich nach den weiten Wäldern von Atara und Gerin, wo sie ihre Jugend verbrachte. Sie blinzelt einmal kurz, als sie vor ihrem inneren Auge das goldene Sonnenlicht sieht, das durch die Bäume filtert, das Rascheln zu hören glaubt, das ihre Jagdbeute auf der Flucht verursacht. Enttäuscht schließt sie die Augen, als der muffige Geruch des Thronsaals sie in die trostlose Gegenwart zurückholt.

~ ~ ~

Der Wald ist ruhig, der Wind raschelt in den Zweigen und das Mondlicht wirft durch das neue Laub tanzende Silberflecken auf den Boden. Silàn springt leichtfüßig von Wurzel zu Wurzel, der Weg scheint ihr kürzer, als sie ihn in Erinnerung hat. Als sie beim Wasserfall ankommt, bleibt sie stehen und dreht sich zu A'shei um.
«Es ist seltsam, wieder hier zu sein, findest du nicht? Alles scheint irgendwie kleiner als früher, sogar der Wasserfall.»
«Ja, und außerdem frage ich mich, wie ich damals dein halsbrecherisches Tempo mithielt, bevor ich nachts sehen konnte!»
Die junge Frau lacht und klettert flink weiter.
«Ich hatte damals nie das Gefühl, dass du mir nicht folgen konntest!»
Das letzte Stück des Weges gehen sie langsamer, Seite an Seite. Es ist fast wie früher, als sie sich gerade erst kennenlernten. Aber inzwischen ist so vieles passiert. Silàn seufzt leise.
«Manchmal wünsche ich, es wäre alles noch einfach wie als du mich zum ersten Mal zum Vollmondtanz der Nsilí mitnahmst. Meine einzige Sorge war, mit welcher Ausrede ich das nächste Mal von Zuhause wegkommen könnte, um dich zu treffen.»
«Und ich verbrachte meine Tage damit, am Tor auf dich zu warten, ohne zu wissen ob du überhaupt wiederkommen würdest.»
«Ich weiß, ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke.»
A'shei nimmt sie spontan bei der Hand.
«Das brauchst du nicht, es war eine gute Zeit. Und du bist immer zurückgekommen, sogar als das Tor verschlossen war.»
«Ja, notfalls mit roher Magie. Ich hoffe, dass das nie wieder nötig wird.»
Silàn schaudert beim Gedanken an dieses Erlebnis. Bald erreichen sie schweigend den Spiegel. A'shei lehnt seinen Bogen gegen eine der großen Eichen und umarmt Silàn zum Abschied.
«Versprich mir, dass du auch diesmal zurückkommst.»
«Versprochen. Wirst du auf mich warten?»
«Ewig und eine Nacht.»
Silàn verzieht gutmütig den Mund über die Abwandlung des Tannaríversprechens. Sie tritt vor den Spiegel und streckt tastend eine Hand aus. Sofort spürt sie den Bann, der auf dem Tor liegt. Offenbar richtet Femolai immer noch Aufmerksamkeit auf diesen Durchgang in eine andere Welt. Vorsichtig sammelt Silàn Energie der Nacht und lässt sie in ihre Fingerspitzen fließen. Sie spürt das Muster von Femolais Spruch und folgt ihm mit ausgestrecktem Zeigefinger. Langsam und ohne einen Alarm auszulösen schiebt sie den Schutzbann zur Seite. A'shei beobachtet den Vorgang mit angehaltenem Atem.
«Was ist, gibt es ein Problem?»
«Femolai oder sonst jemand hat den Spiegel mit einem Bannspruch gesichert. Aber sie unterschätzt mich wohl - hoffentlich. Kein Problem, bis später!»
Mit einem kurzen Winken tritt sie durch die Lücke, die sich im Schutzbann öffnet. Hinter ihr schließen sich die Fäden des magischen Gewebes, ohne eine Spur ihrer Passage zurückzubehalten.
Auf der anderen Seite des Spiegels dreht sie sich um. Tatsächlich, das Tor ist geschlossen, die Illusion perfekt. Wenn sie sich darauf konzentriert, spürt sie das Gewebe des Bannspruchs. Er sollte von dieser Seite genauso einfach zu öffnen sein wie von drüben. Silàn atmet auf. Aber dann hält sie inne. Was ist, wenn Femolai einen Trick anwendet, wenn irgendwo eine Falle in dem Bann verborgen ist? Vorsichtig untersucht sie den Zauber noch einmal, erfolglos. Entweder unterschätzt die dunkle Königin ihre Gegnerin oder ihr eigenes Geschick hat zugenommen, seit sie in Penira im Kerker saß. Erst die Zukunft wird zeigen, was zutrifft. Damit schiebt sie alle Gedanken an Femolai zur Seite. Sie ist heute aus einem bestimmten Grund hier.
Silàn holt den Mondstein aus ihrer Tasche und wickelt ihn vorsichtig aus. Der Stein ist warm und glänzt metallisch im Mondlicht. Deutlich spürt sie die Magie, die er enthält. Wozu sie wohl dient? Sie versucht nicht zum ersten Mal, darauf zuzugreifen. Aber auch diesmal findet sie keinen Zugang. Antim ist sich sicher, dass der Stein große Macht in sich birgt und auf keinen Fall in Femolais Hände fallen darf. Er vermutet, dass er auch Silàn gefährlich wird, dass er ihre Magie in sich aufnimmt und sie dadurch allmählich schwächt. Sie wollte ihm das zunächst nicht glauben, musste sich aber den Argumenten ihres Lehrers beugen. Ureshàn versteckte den Stein bestimmt nicht grundlos so tief in der Erde. Außerdem suchte Antim eine alte Schrift hervor, in welcher von einem ‹Stein der dunklen Macht› oder ‹dunklen Stein der Macht› die Rede ist, einem Stein der großen Magie. Er besitzt die besondere Eigenschaft, von jedem, der in seine Nähe kommt, langsam und unmerklich magische Energie zu gewinnen und zu speichern. Da er dies bereits seit sehr vielen Generationen tut, muss er inzwischen eine mächtige Energiereserve besitzen. Er soll zudem in der Lage sein, verschiedene Arten der Magie in sich aufzunehmen. Antims Schrift erklärt weiter, dass es möglich sei, die magische Energie aus dem Stein zurückzugewinnen. Aber selbstverständlich hört der Text damit auf und liefert keine weiteren Erklärungen. Es wird nur noch berichtet, dass der Stein in den Besitz der Königin Silàn von Silita gelangte und seither als verschollen gilt.
Antim und Dánan rätselten den ganzen Abend über dem Schriftstück. Schließlich beschloss Silàn nach reiflicher Überlegung, sich von dem Stein zu trennen und ihn so bald als möglich in Sicherheit zu bringen. Sie ließ sich Antim und Dánan gegenüber nichts anmerken. Nur A'shei, der sie die ganze Zeit schweigend beobachtete, schien ihre Absicht zu ahnen. Als Onish längst eingeschlafen war und Antim und Dánan sich anschickten, zu Bett zu gehen, richtete er eine unauffällige Frage an Silàn.
«Kommst du mit auf einen Spaziergang?»
Sie schien zuerst zu zögern und zuckte dann die Schultern.
«Warum nicht? Es ist noch nicht spät.»
Antim blickte den beiden nachdenklich hinterher.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt