1-17 Tochter der Nacht

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Tochter der Nacht

Als Silàn nach Hause kommt, stellt sie fest, dass es noch sehr früh ist. Deshalb legt sie sich vor dem Frühstück in ihrem Zimmer aufs Bett, um natürlich prompt einzuschlafen. Als Stefan sie später weckt, fühlt sie sich zerschlagen und hat keine Lust, aufzustehen. Der Junge grinst sie von der Tür aus an.
«Mensch Tina, du siehst heute beschissen aus!»
In diesem Moment kann sie Stefan die Bemerkung nicht einmal übel nehmen. Sie fühlt sich seiner Beschreibung entsprechend. Magie scheint viel Energie zu brauchen, sie körperlich auszulaugen. Sie steht trotzdem auf und fühlt sich nach der Dusche etwas besser. Beim Frühstück mustert Peter sie besorgt.
«Was ist mit dir los, Liebes, du bist heute so blass?»
Silàn zuckt nur die Schultern und murmelt etwas von schlechten Träumen. Andres schaut sie über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg fragend an, aber er sagt freundlicherweise nichts. Sie isst schweigend und in der Hoffnung, dass das hilft, ihre in der Nacht verausgabte Energie zu ersetzen.
Wie in den letzten Tagen gehen die beiden Mädchen gemeinsam zur Schule. Angies Unterricht fängt heute erst eine Stunde später an, aber sie will unbedingt diese kostbaren Minuten mit der Schwester verbringen. Judith lächelt dazu nur. Endlich findet ihre Tochter die Motivation, morgens aus den Federn zu kriechen. Vielleicht hat die ältere Cousine doch einen guten Einfluss auf Angelika!
Stefan ist vorausgelaufen, um mit seinen Klassenkollegen herumzualbern. Angie nimmt Silàn bei der Hand, kaum haben sie den Garten verlassen. Sie kocht beinahe über vor Neugier.
«Und, wie ist es gestern Nacht gelaufen? Hast du Silmira gesehen?»
Silàn belächelt den Eifer der jüngeren Schwester. Natürlich muss sie ihr alles erzählen, vom Besuch der Xylin, von Silmiras Schattengestalt und dem Erfolg der magischen Übungen. Angie ist begeistert.
«Sie bringt dir tatsächlich bei, wie du das Tor mit einem Zauberspruch öffnen kannst? Wann wirst du es versuchen?»
«Heute Nacht, bei Vollmond. Silmira meint, meine Kraft sei dann am größten. Aber im Moment fühle ich mich ziemlich zerschlagen. Magie ist echt anstrengend!»
«Ich wünschte, ich könnte auch zaubern. Darf ich dir heute Nacht zusehen?»
Silàn zögert. Sie fürchtet, dass ihre Kraft nicht ausreicht, das Tor zu öffnen, wenn jemand dabei ist, der nichts mit jener Welt zu tun hat. Andererseits kann sie problemlos in Anwesenheit von Andres und Angie ihre Zeichen malen, sogar in dieser Welt. Vielleicht ist ihre Angst also unbegründet. Trotzdem ist sie lieber vorsichtig.
«Ich weiß nicht, Angie. Ich habe Angst, dass es nicht klappt, wenn jemand zusieht.»
«Aber wenn es klappt, dann gehst du in diese andere Welt und ich sehe dich nie wieder!»
Die Schwester ist aufgebracht.
«Wenn es klappt, werde ich auch einen Weg finden, um zurückzukommen und mich zu verabschieden oder dich zu besuchen.»
Silàn formuliert ihr Versprechen mit mehr Überzeugung, als sie tatsächlich aufbringen kann. Angie scheint das zu spüren. Sie schlägt einen bittenden Tonfall an.
«Ich möchte dich nicht gleich wieder verlieren, wo wir uns gerade erst gefunden haben. Darf ich wenigstens am Waldrand warten und du rufst mich, wenn du das Tor aufkriegst?»
Silàn lacht.
«Du bist ganz schön hartnäckig. Aber das haben wir wohl gemeinsam von Andres geerbt. Ich werde darüber nachdenken, versprochen.»
Damit muss sich Angie wohl oder übel für den Moment zufrieden geben.

Die Unterrichtsstunden ziehen sich heute extrem langsam dahin. Zweimal nickt Siàn ein und bekommt dafür einen Verweis. In der Pause nimmt Frau Schneider sie zur Seite.
«Was ist nur wieder mit dir los, Bettina? Schläfst du zuwenig? Wenn das so weitergeht, muss ich deinen Vater herbitten!»
Nun ja, tun Sie das ruhig, denkt das Mädchen für sich. Vielleicht erzählt er ihnen, dass ich eine Prinzessin der Nacht aus einer anderen Welt bin, welche tagsüber schlafen sollte, um nachts uneingeschränkt auf ihre magischen Reserven zugreifen zu können. Dann fällt ihr siedendheiß ein, dass Frau Schneider mit ihrem Vater nicht Andres meint, sondern Peter. Das kann sie wirklich nicht gebrauchen. Deshalb entschuldigt sie sich schnell und erfindet einmal mehr eine Geschichte von schlechten Träumen und schlaflosen Nächten. Sie verspricht, sich am Wochenende gründlich auszuschlafen, um nächste Woche frisch zu sein. Endlich gibt sich die Lehrerin zufrieden.
Silàn bemüht sich, in den nächsten Stunden aufmerksamer zu sein. Aber ihre Energie erneuert sich tagsüber nur langsam und als sie von der Schule heimkommt, legt sie sich erschöpft eine Stunde hin. Sie wird ihre volle Kraft heute Abend benötigen. Als Peter ohne zu klopfen ihre Tür öffnet, schrickt sie aus tiefem Schlaf hoch.
«Bettina, geht es dir gut? Ich muss dir unbedingt etwas erzählen!»
Ohne ihr Zeit zu lassen, auf die erste Frage zu antworten, spricht er weiter. Er scheint vor Aufregung und Freude fast zu platzen: Es klappt mit dem Job, von dem ihm Hannes am Wochenende berichtete.
«Ich kann nächsten Monat anfangen. Sie sagen, ich sei genau richtig für die Stelle. Brigitte ist begeistert, sie kommt heute Abend rüber, damit wir alle anstoßen können. Was sagst du nun?»
Das Mädchen freut sich für ihn. Natürlich gönnt es ihm den neuen Job. Dass er zuerst Brigitte davon erzählte, schmerzt allerdings ein bisschen. Aber Silàn hat schließlich auch ihre Geheimnisse. Sie bemüht sich, Begeisterung zu zeigen.
«Gratuliere, das ist toll für dich. Ist es hier in der Gegend?»
«Nein, es sind dreißig Minuten mit dem Bus bis zu dem Werk. Aber das ist kein Problem. Brigitte kann mich an den Tagen mitnehmen, an denen sie in der Praxis arbeitet.»
Stimmt, Brigitte hat eine Teilzeitstelle in einer Zahnarztpraxis in der Stadt. Nun ja, dann passt für die beiden ja alles. Silàn setzt ein strahlendes Lächeln auf, um Peter zu zeigen, wie froh sie für ihn ist. Aber sie ist unheimlich erleichtert, als Stefan zum Essen ruft.
Hauptgesprächsthema während der Mahlzeit ist Peters neuer Job. Es fällt niemandem auf, dass Silàn kaum etwas sagt. Nach dem Essen hat sie nur kurz Zeit, Andres zu informieren, dass sie es heute mit dem Tor versuchen will, mit Silmiras Hilfe.
«Wirst du dann gleich mit ihr mitgehen?»
Auch Andres scheint besorgt, sich nicht richtig verabschieden zu können. Silàn zögert.
«Angie bat mich, am Waldrand warten zu dürfen. Ich habe versprochen, mich zu verabschieden, wenn ich kann. Wenn du möchtest...»
«Klar möchte ich! Lass mich machen, wir kriegen das hin, ohne dass jemand dich aufhält oder stört!»
Sein Lächeln und die Begeisterung sind ansteckend. Silàn ist plötzlich froh, heute Abend nicht alleine zu sein.
Dann kommt auch schon Brigitte für die kleine Feier. Das bedeutet, dass die beiden Mädchen bald unbemerkt in den Garten entwischen können, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen. Während die Sonne hinter dem Horizont versinkt, bemerkt Silàn, wie ihre Kraft zurückkehrt. Zum ersten Mal spürt sie am eigenen Körper, was es bedeutet, eine Tochter der Nacht zu sein. Sie seufzt laut vor Erleichterung, als sie sich endlich gesund und bereit für die heutige Nacht und ihr Vorhaben fühlt. Angie schaut sie fragend an.
«Ich bin einfach froh, dass es Abend ist und ich wieder fit bin. Dieser Tag war furchtbar anstrengend. Sobald die Sonne weg ist, geht es mir gleich besser.»
Die Schwester schüttelt verständnislos den Kopf.
«Das muss seltsam sein. Mir geht es immer besser, wenn ich am Morgen früh die Sonne sehe.»
«Das ist richtig so, du bist schließlich ein echtes Sonnenkind, mit deinen goldenen Haaren und himmelblauen Augen. Ich bin eine Tochter der Nacht, deshalb geht es mir am besten, wenn der Mond am Himmel steht.»
Angie lacht, wird aber dann schlagartig wieder ernst.
«Ich werde dich sehr vermissen. Du musst mir versprechen, mich zu besuchen.»
«Das werde ich, wann immer ich es einrichten kann. Von Antim bis zum Tor ist es eine gute Stunde Weg. Das schaffe ich bestimmt ab und zu.»
«Gut. Ich werde auf dich warten. Ich lasse in der Nacht meine Fensterläden offen, dann kannst du über den Anbau klettern und an mein Fenster klopfen, wenn du kommst.»
Die Schwester plant bereits alles. Es ist gut zu wissen, dass sie hier eine Familie hat, die zu ihr steht und an sie glaubt, was auch immer geschehen wird.
Innerlich stellt sie sich noch einmal all die Zeichen vor, welche sie heute Nacht brauchen wird. Sie wirklich auszuführen, traut sie sich nicht, denn sie weiß, dass ihre Magie inzwischen viel mehr Kraft besitzt als noch vor wenigen Tagen. Es war wohl ziemlich gedankenlos, die Zeichen vor Angie und Andres zu üben. Aber andererseits brachte sie das bis hierher.
Angie verwickelt Silän wieder in ein Gespräch. Ihre Neugier ist unstillbar. Darüber beginnt es endlich einzunachten. Andres kommt aus dem Haus. Seine Stimme ist betont fröhlich.
«Nun, Mädels, besuchen wir nochmals die jungen Füchse? Sie müssen inzwischen ein gutes Stück gewachsen sein. Zieht euch warm an, dann können wir los.»
Angie grinst übers ganze Gesicht, aber Silàn hat ein beklemmendes Gefühl, als sie sich rasch ihre besten Jeans und ihren Lieblingspullover anzieht, darüber ihre dunkelblaue Windjacke. Um den Hals trägt sie die Kette mit dem Mondbaumblatt. Mehr besitzt sie nicht, was es sich lohnt, in jene andere Welt mitzunehmen. Sie blickt sich noch einmal in dem Zimmer um, welches sie noch nicht lange genug bewohnt, um sich heimisch zu fühlen.
Im Vorbeigehen verabschiedet sie sich von Stefan, der im Wohnzimmer auf der Couch liegt und kurz den Kopf von seinem Comicheft hochhebt, um etwas Unverständliches über sentimentale Mädchen und blöde Füchse zu murmeln. Silàn lächelt. Aber dann fühlt sie sich doch seltsam, als sie sich von Judith verabschiedet und Peter eine gute Nacht wünscht, vielleicht zum letzten Mal. Der Mann, den sie ein Leben lang für ihren Vater hielt, merkt nichts.
«Gute Abend, Tina, viel Spass bei den Füchsen!»
Er ist schon wieder in ein angeregtes Gespräch mit Brigitte vertieft. Angie ist inzwischen bereit, eingepackt in einen warmen Anorak und mit einer starken Taschenlampe ausgerüstet. Andres wartet an der Tür. Der Vollmond steht gross und gelb über dem Wald und scheint Silàn freundlich zu begrüßen. Es ist Zeit.

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