2-15 Im Kerker

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Im Kerker

A'shei verliert die Spur von Silàns Entführern trotz aller Bemühungen auf dem nächsten größeren Platz. Auf dem verhältnismäßig sauberen Straßenpflaster sind keine Spuren erhalten. Verzweifelt untersucht er die Einmündungen der umliegenden Gassen, erfolglos. Schließlich lehnt er sich erschöpft gegen eine Hauswand. Er weiß nicht, was er noch tun kann. Ohne eine Ahnung, wer die Entführer sind und wohin sie ihr Opfer gebracht haben, ohne jemanden zu kennen, der sich in dieser Stadt zurechtfindet, fühlt er sich hilflos. Außerdem ist er müde und hat Hunger. Aus seinem Rucksack kramt er ein Stück altes Brot und einen Apfel hervor. Gegen die Wand gelehnt setzt er sich hin, um zu essen. Dann verstaut er Silàns wenige Habseligkeiten in seinem eigenen Gepäck. Nur die Schnitzerei behält er in der Tasche. Immer wieder streicht er mit den Fingern darüber, als könnte das kleine Kunstwerk ihn zu seiner Freundin führen. Nach einer Weile steht er auf, um sich auf die Suche nach einem Schlafplatz zu machen. Er wird heute mit seiner Suche nicht weiterkommen. Ziellos streift er durch die leeren Gassen. Vielleicht findet er morgen Hilfe, jemanden, der ihm sagen kann, wo Silàn hingebracht wurde. Er könnte zurück zu Gorenim gehen, der ist immerhin ein Schattenwandler. Andererseits fürchtete Silàn den alten Mann von Anfang an und verdächtigt ihn, mit der Dunkelheit im Bund zu stehen. Falls das stimmt, löste Gorenim vielleicht ihre Verfolgung aus. Damit ist er möglicherweise seine einzige Spur zu Silàn. Aber er muss vorsichtig sein, es nützt nichts, wenn er sich ebenfalls gefangen nehmen lässt. Endlich entdeckt A'shei einen kleinen Park mit uralten Bäumen. Er rollt sich zwischen den Wurzeln einer Eiche zusammen und denkt wehmütig an die Zeit zurück, als er unter der Eiche am Spiegel auf seine Silàn wartete. Das ist schon lange her, aber heute wünscht er, es wäre alles noch so einfach wie in jenen sorglosen Tagen. Erst spät fällt er in einen unruhigen Schlaf voller beängstigender Träume.

~ ~ ~

Silàn erwacht von Geräuschen, die sie nicht zuordnen kann. Auf ein schrilles Quietschen folgt ein Schaben, danach ein Knirschen und das Einschnappen eines Riegels. Langsam hebt sie den schmerzenden Kopf und dreht ihn in die Richtung der Geräusche. Im schwachen Licht erkennt sie eine massive Tür aus schwerem Holz, die Bohlen uralt aber von dicken eisernen Bändern zusammengehalten. Zuunterst an der Tür gibt es eine kleine Klappe, vor welcher eine flache Schüssel und ein Becher stehen. Vermutlich verursachte die Klappe die Geräusche, als die Schale und der Becher durch sie hindurchgeschoben wurden. Silàn bleibt einen Moment erschöpft liegen, bevor sie versucht, sich aufzurichten. Mit schmerzenden Muskeln und hinter dem Rücken zusammengeketteten Händen ist das nicht einfach, obwohl ihre Beine inzwischen nicht mehr gefesselt sind. Schließlich gelingt es ihr, aufzusitzen und sich hinzuknien. Sie ist durstig, und der Becher enthält Wasser. Silàn versucht, zu trinken indem sie sich über das Gefäß beugt. Das funktioniert nicht, beinahe stößt sie den Becher um. Sie zerrt an ihren Fesseln. Ihre Handgelenke sind von eisernen Ringen umschlossen, welche mit einer kurzen Kette verbunden sind. Mit schmerzhaften Verrenkungen gelingt es ihr, die Hände unter ihrem Gesäß durchzuzwängen und ein Bein nach dem anderen über die Kette zu heben. Sie ist von der akrobatischen Leistung erschöpft und fühlt sich von den Tritten und der unsanften Behandlung durch die Krieger zerschlagen. Aber immerhin kann sie jetzt den Becher aufheben und an die Lippen führen. Das abgestandene Wasser scheint ihr etwas vom Besten, was das sie je kostete. Vorsichtig stellt sie den halb geleerten Becher wieder hin. Wer weiß, wann er das nächste Mal aufgefüllt wird? Die Schale enthält einen unappetitlich aussehenden grauen Brei, bei dessen Anblick ihr Magen sich gleich wieder zusammenzieht. Trotzdem versucht sie, etwas davon zu essen. Der bittere Geschmack lässt sie aber würgen und sie verzichtet darauf, ihren leeren Magen mit der undefinierbaren Masse zu quälen. Erschöpft setzt sie sich gegen eine Wand und betrachtet ihr Gefängnis. Die Zelle ist nicht groß, vielleicht zehn Schritte lang und acht breit. Der Raum ist aber sehr hoch und ganz unter der Decke gibt es an einer Schmalseite ein kleines Fenster. Es ist winzig und wegen der enormen Dicke der Kerkerwände fällt kaum Licht durch die Öffnung. Draußen ist es Tag, wenn Silàn sich richtig hinstellt, kann sie ein winziges Stück blauen Himmel sehen. Sie seufzt und macht sich daran, die Gefängniswände zu untersuchen. Viel Hoffnung, einen Fluchtweg zu finden, sieht sie nicht. Aber alle Gefangenen untersuchen die Wände ihrer Zelle, zumindest in den Abenteuergeschichten, die sie als Mädchen so gerne las. Nun scheint ihr dieses andere Leben so fern und unwirklich, dass sie unwillkürlich lächeln muss, als ihr der Graf von Monte Christo und Corwin von Amber einfallen. Sie könnte versuchen, einen Tunnel zu graben. Aber ihr Verlies befindet sich mit großer Wahrscheinlichkeit im Palast und damit auf dem Felsen hoch über der Stadt. Die Wände sind aus massiven Steinblöcken lückenlos gefügt und der Boden besteht aus blankem Fels. Aber da war noch etwas anderes... Stimmt, Corwin entkam mit Magie aus seinem Verlies. Traut sie sich, ihre Magie einzusetzen, so dicht unter den Augen der Königin der Dunkelheit?
Silàn gibt ihre vergebliche Suche nach einer Schwachstelle der dicken Mauern auf und setzt sich hin, um eine Entscheidung zu treffen. Langsam geht sie die Begegnung mit Femolai in Gedanken noch einmal durch, versucht sich an alle Details zu erinnern. Manches ist verschwommen, sie war wirklich nicht in ihrer besten Form, letzte Nacht. Aber nach und nach gelingt es ihr, das Verhör aus der Erinnerung wieder zusammenzufügen. Sie ist zuversichtlich, dass sie sich nicht verriet. Der Trick mit der Geschichte aus der anderen Welt könnte funktioniert haben. Selbst Talisha, die weiße Wölfin, deren Blick bis in ihr Gehirn zu dringen schien, durchschaute ihre Tarnung nicht. Femolai erwähnte, dass sie mit Pentim nach Lellini ziehen werde. Nach allem, was Silàn über die Geographie dieser Welt weiß, ist das eine lange Strecke. Es ist also möglich, dass die Königin im Moment gar nicht in Penira ist. In diesem Fall wäre der Zeitpunkt ideal, eine Flucht zu versuchen. Die Frage ist nur, ob der Sonnenkönig und Femolai tatsächlich bereits abgereist sind. Es wäre dumm, zu früh mit Magie auf sich aufmerksam zu machen. Sie will mindestens bis zur nächsten Nacht warten, bis das Mondlicht ihre Bemühungen unterstützt.
Ihre Gedanken wandern wieder zu den Gefangenen aus ihren Büchern. Selber in einem Verlies zu sitzen ist wesentlich langweiliger als darüber zu lesen. Sie lächelt, als ihr Taran einfällt. Er musste nicht einmal etwas zu seiner Befreiung tun, seine Prinzessin holte ihn aus dem Kerker, und zwar sogar zweimal. Das Lächeln auf ihren Lippen stirbt, als sie an A'shei denkt. Wo er wohl steckt? Ob Femolais Krieger ihn gefunden haben? Sie hofft verzweifelt, dass er entkommen konnte und Penira inzwischen verlassen hat. Dabei fürchtet sie, dass der junge Schattenwandler sie nicht im Stich lassen wird. Sie sind einander inzwischen nahe gekommen, wie Geschwister und darüber hinaus. Wehmütig denkt sie an Feneshs Aufmerksamkeiten und A'sheis Eifersucht, daran wie sie es genoss, von den beiden umworben zu werden. Nein, A'shei wird sie niemals hier zurücklassen, selbst wenn das sein eigenes Verderben ist.
In einer Ecke des Gefängnisses liegen schmutziges Stroh und eine löchrige Decke. Sie baut sich daraus ein Lager und versucht, nicht an Läuse und anderes Ungeziefer zu denken, als sie sich niederlegt. Wenn sie schon die Wahl hat, schläft sie lieber am Tag, um in der Nacht an ihrem Fluchtversuch zu arbeiten. Dann steht sie aber doch noch einmal auf, um den Rest des Wassers zu trinken und den Becher wieder vor die Klappe zu stellen. Hoffentlich wird das Gefäß am Abend frisch gefüllt.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt