Warten ohne Ende

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Kata:
Langsam normalisierte sich alles. Easy war auf einmal wieder so wie immer, er hatte sich sogar bei mir entschuldigt, dass er so unfreundlich zu mir gewesen war. Vielleicht war es wirklich nur diese sicherlich unerwartete Situation mit Lisa gewesen.
Aber das war nicht das einzige, was heute geschehen war. Gerade waren Sabrina und Alex zurückgekommen und hatten uns erzählt, dass sie jetzt zusammen sind. Das kam aber auch nicht völlig unerwartet. Easy hatte ihnen dann auch von der Sache mit Lisa erzählt. Die beiden hatten aber anscheinend schon geahnt, was sie empfand.
Das eigentliche Problem war aber, dass Lisa immer noch nicht zurück war. Es wurde langsam richtig dunkel. Wir hatten die Campleitung schon informiert, dass sie weggelaufen war - nach einem "Streit", wie Easy es ausdrückte - und diese hatte sofort einen Suchtrupp losgeschickt. Jetzt saßen wir alle da, volkommen fertig vom Tag und dem ganzen Gefühlschaos und warteten. Und warteten.
"Kommt bitte alle hier zusammen!", rief plötzlich jemand. Wir sprangen sofort auf. Aber es ging nur um den Jungen, der gestern vom Baum gefallen war. Er hatte sich den Arm gebrochen und würde nicht zum Camp zurückkehren, es war also alles nicht so schlimm, wie es zuerst ausgesehen hatte.
Dann saßen wir wieder da. Und schwiegen. Irgendwie konnte ich diese bedrückte Stimmung nicht mehr aushalten, also sagte ich: "Sogar unseren Gelbgurten wäre bei dem Sturz nichts passiert. Die können immerhin halbwegs fallen" "Isso. Bei dem weichen Boden sich was zu brechen is' auch 'ne Leistung", antwortete Easy. "Aber seine Schuld. Wenn er unbedingt auf unseren Kirschbaum klettern muss. Ist doch irgendwie Schicksal", sagte ich. "Sag mal, glaubst du an Schicksal?", fragte er mich. Das kam jetzt ziemlich überraschend. Bis jetzt hatten wir meistens nur über Alltägliches oder Lustiges geredet. "Ich weiß nicht wirklich...", gab ich schließlich zu, "aber... irgendwie schon" "Ich nicht", antwortete Easy direkt, "ich glaub auch nicht an Gott. Du?" Zumindest hatte er von allem eine ehrliche Meinung, auch wenn ich in diesem Punkt eher anders dachte. "Doch, ich irgendwie schon", sagte ich. Gerne hätte ich mich noch länger mit ihm unterhalten, einfach nur wir zwei - Sabrina und Alex waren schon seit einiger Zeit im Zelt - aber in dem Moment kam der Suchtrupp zurück. Leider mit schlechten Nachrichten: Sie hatten Lisa nicht gefunden.
"Hat sie ein Handy dabei?", fragte einer der Betreuer, und allein diese Frage veranschaulichte ihre Verzweiflung perfekt. "Wir dürfen doch keine Handys haben", antwortete auch sofort jemand. "Handyverbot war wohl doch nicht so die beste Idee, was?", kommentierte Easy das ganze und dieser Moment von eben war endgültig verflogen. "Und was machen wir jetzt?", fragte ein Mädchen. "Wir können nur warten und hoffen. Und ihr geht jetzt alle schlafen", antwortete der Betreuer.
Kurze Zeit später lag ich im Bett und versuchte, zu schlafen. Wenigstens schlief ich jetzt endlich im anderen Zelt, bei Sabrina und... naja, eigentlich auch Lisa.
Ich wälzte mich zum tausendsten Mal im Schlafsack rum. "Auch immer noch wach?", fragte mich auf einmal Sabrina. "Ja...", antwortete ich seufzend. "Hast du eigentlich genau gehört, was Easy zu Lisa gesagt hat?", wollte sie jetzt wissen. "Nein... ich war nicht dabei. Er hat es mir aber genau erzählt...", fing ich an und erzählte Sabrina alles, was ich darüber von Easy erfahren hatte.
"Der Arm des Jungen war wohl nicht das Einzige, was jetzt gebrochen ist...", sagte Sabrina, als ich fertig mit Erzählen war. "Ja, das stimmt wohl..." antwortete ich und drehte mich auf die andere Seite.

Irgendwie musste ich jetzt an mein Gespräch mit Easy denken. Natürlich nur an diesen einen Teil.
Er glaubte weder an Schicksal noch an Gott. Vielleicht wäre mein Leben ja einfacher gewesen, wenn ich auch so denken würde.
Vielleicht würde ich mich dann nicht seit 10 Jahren das selbe fragen.
"Wieso?"
"Warum ich?"
"Was habe ich denn getan?"
"Womit habe ich das verdient?"
Dann wäre alles einfach Zufall. Reiner Zufall.
Aber eben alles. Auch dass ich ihn getroffen hatte. Auch dieser Moment heute. Alles.
Auch mein Leben. Reiner Zufall. Ohne ein Ziel. Einfach nur sinnlos.
Und das war ein schrecklicher Gedanke.
Aber... wirklich schrecklicher als all das, was ich durchgemacht hatte?

Kein Anfang ohne Ende - kein Ende ohne AnfangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt