*Sicht von Florence*
Ich sah in den Spiegel. Unter meinen müden Augen erstreckten sich tiefe Augenringe. Die letzten Monate, sie hatten sichtbare Spuren hinterlassen. Seit der SMS von Dad, dass Henry gestorben war, hatte sich mein Leben von Grund auf geändert. Das ich weiter gemacht habe und mich nicht gegenüber unseren Verfolgern gezeigt habe, habe ich einzig und allein Matthew zu verdanken. Ich war nicht mehr ich selbst, ich war ein lebloser Mensch, den er von a nach b geschleppt hat und zurück. Ich habe nicht mehr für mich gehandelt, ich war nicht mehr in der Lage eigenständig Entscheidungen zu treffen. Ich war einfach nicht mehr ich selbst.
Ich riss den Blick von meinem Spiegelbild und ging zurück in den dunklen kleinen Raum, in welchem das schmale Bett stand. Der Digitalwecker zeigte 4:33am an. Müde kroch ich wieder unter die Decke zu Matthew. Er lag mit dem Rücken zu mir. Ich konnte nicht schlafen und starrte an die Decke. Ich war müde vom Leben – vom Überleben. Wir waren wieder in einem der Trainingscamps von Matt. Weihnachten und Neujahr waren vorbei und auch mein Geburtstag. 18. Ich war jetzt 18 Jahre alt. Die magische Zahl. Wir hatten die Kälte und das Snowboarden erneut hinter uns gelassen und waren auf Hawaii. Matt hatte gehofft surfen würde mich ablenken, aber das tat es nicht. Ein Jahr verstecken spielen, um den ganzen Globus reisen, ständig zu flüchten und niemanden, wirklich niemanden trauen zu können, dass ging an die Substanz. Ich hatte keine Lust, ich konnte nicht mehr und mein Körper fühlte sich einfach leer an. Ich vermisste mein Zuhause, meine Familie. Ich kam auch nicht über den Schmerz hinweg, der eintrat, als ich von Henrys Tod erfuhr. Er war mein Onkel, der Mensch, der Lebensfreude in die vier Wände in Kanada brachte. Er hat die Familie selbst in Krisenzeiten zum Lachen gebracht und Laurie und mir so viel beigebracht. Er war für uns ein Held. Wie Dad sich fühlen musste, wollte ich gar nicht wissen. Erst sein Bruder Rick, jetzt Henry. Ich weiß nicht, Daddy machte immer einen starken und eisernen Eindruck, aber innen drin, war er auch nur ein Mensch mit Gefühlen und Familie war für ihn schon immer heilig gewesen. Er musste leiden, sehr leiden und ich konnte nicht für ihn da sein. Ich hoffte einfach nur, dass meine Familie sich nach Henrys Tod gegenseitig stützte und nicht wie ich, mit dieser Trauer komplett alleine da stand.
Neben mir bewegte sich Matthew plötzlich. Er drehte sich zu mir um, sah mich fragend an und legte dann einen Arm um mich. Seit einem Jahr teilten wir uns jede Nacht dieses schmale Bett. Tagsüber waren wir uns oft uneinig, stritten und diskutierten, doch jeden Abend fielen wir beide in das schmale Bett und es war alles wieder Ok. Wir mussten uns aufeinander verlassen und trotzdem er so ein Arschloch war, gab er mir das Gefühl überall zu Hause zu sein. Matt strich über meinen Arm und langsam wurden meine Augen schwerer. Ich schlief endlich ein.
Als ich wach wurde, schien die Sonne leicht durch die dunklen Vorhänge. Müde raffte ich mich auf und sah, dass es 11am war. Seit langem hatte ich mal länger als drei Stunden durchgeschlafen. Ich stand auf und schob die Vorhänge zur Seite. Vor mir erstreckte sich Strand und Meer. Ich kletterte unter die Dusche und zog mir danach eine Hot Pans und ein lockeres Shirt an. In mir machte sich ein Gefühl breit, dass ich schon lange unterdrückt hatte. Trotzdem ich jede Nacht neben Matthew lag und jeden Tag mit ihm verbrachte hatte, machte sich in mir ein Gefühl der Distanz breit. Seit Tagen brannte mir es auf Zunge, es ihm zu sagen, doch nie hatte sich der richtige Moment ergeben. Ich ging durch den Flur zum kleinen Wohnzimmer und sah Matthew mit seinem Laptop auf dem alten Sofa sitzen. Als er mich bemerkte, sah er mich fragend an. Ich beschloss es ihm endlich zu sagen. Etwas unentschlossen lehnte ich mich gegen die Küchenzeile und atmete tief ein.
„Ich überdenke ständig die letzten Wochen immer und immer wieder in Gedanken und versuche den exakten Moment zu finden, an dem ich dich verlor. Mich wundere ob ich hätte etwas anderes tun können. Aber ich wollte einfach nur das du weißt: Es war das beste Jahr meines Lebens."-ich. Matthew klappte sein Laptop zu und lächelte leicht
„Meins auch"-er und legte den Laptop beiseite. Er kam auf mich zu und nahm mich in den Arm.
„Ich möchte nicht, ich möchte hier bleiben. Ich kann mir nicht vorstellen das hier zu vergessen. Ich kann mir nicht vorstellen dich hier zu lassen"-ich und sah ihn traurig an.
„Es tut mir leid. Ich kann nicht mitkommen, aber ich kann mir auch nicht vorstellen jeden Morgen aufzuwachen und dich nicht zusehen"-er und drückte mir ein wenig enger an sich. Ich spürte wie meine Augen brannten. Vereinzelt flossen Tränen meine Wangen herunter und ich sah hoch in Matthews eisblauen Augen. Sie wirkten auch feuchter als normal.
„Einmal gehen wir noch zusammen surfen"-er und es klang wie ein Versprechen. Ich nickte und sah auf die Küchentheke. Da lag es. Das Ticket nach Hause. Morgen Abend würde ich den Rückflug nach Kanada antreten. Zurück fliegen in die Heimat und Matthew hier zurück lassen, dann würde sich die Welt für ihn verändern. Morgen Nachmittag hätte ich einen Gerichtstermin in einem hawaiianischen Gericht. Ich würde Aussagen – gegen die Leute die mich verfolgten.
„Komm, zieh dich um"-er und haute mir liebevoll auf den Hintern. Ich ging ins Schlafzimmer, zog wehmütig meinen Bikini an und ging dann vor das kleine Haus am Strand. Matthew gab mir mein Surfbrett und wir liefen in die Fluten. Wir surften mit fast jeder Welle und tatsächlich schaffte ich es, zu lachen. Im Meer fühlte ich mich frei und Matthew gab mir hier immer das Gefühl, dasselbe zu lieben wie ich. Wir duschten das Meerwasser in der Außendusche unserer kleinen Hütte ab und entschieden uns dann, eine kleine Wanderung zu einer der Klippen zu machen und dort unseren Abend ausklingen zu lassen. Ich zog mir meine schwarze Jeans mit den Löchern auf den Knien an und ein graues lockeres Shirt. Während Matthew sich noch ein Oberteil suchte, nahm ich eine Flasche Rotwein aus dem Kühlschrank und dann gingen wir gemeinsam die asphaltierte Straße hoch, bis wir an einem Sandweg ankamen, der uns zu unserem Lieblingsplatz führte. Ich setzte mich auf einen Felsvorsprung und sah gedankenverloren aufs Meer. Matt gesellte sich dazu und wir tranken den Wein direkt aus der Flasche. Matthew rauchte vor sich hin und schüttelte in Gedanken den Kopf.
„Ich hab sie geliebt"-er und starrte stur geradeaus. Fragend sah ich ihn von der Seite an. Matt nahm einen Zug seiner Zigarette.
„Ich hab sie geliebt, die Zeit mit dir"-er und sah mich an. Seine eisblauen Augen wirkten wässrig und auch in mir machte sich mehr und mehr das Gefühl von Abschied breit.
„Wie verabschiedest du dich von einer Person, die dich besser kennt als sonst irgendwer?"-ich leise.
„Ich wünschte, ich wüsste es"-er seufzend.
„Ich werde nicht über dich reden können. Mit niemanden. Ich werde es nicht können, weil es mich so traurig macht"-ich und biss meine Lippen aufeinander.
„Wie kann man jemanden lieben, aber nicht in der Lage sein, mit dem an einem Ort zu sein?"-Matt.
„Das ist es halt. Das ist die Situation, die mich fertig macht"-ich seufzend und nahm einen Schluck Rotwein. Mein Kopf tat höllisch weh, nicht wegen dem Alkohol, sondern weil ich meine vielen Gedanken nicht ordnen konnte und die Tränen unterdrücken musste. Ich sah den rot-rosanen Himmel an, der vor uns lag und atmete tief ein.
„Das"-ich und zeigte aufs Meer, „wird mich immer an dich erinnern"
„Mich auch an dich. Das Meer im Sommer, der Schnee im Winter"-er. Ich nickte.
„Es war mit Abstand das beste Jahr meines Lebens"-ich. Matthew nickte zustimmend. Als es Nacht wurde, gingen wir zurück in Richtung Stadt und auf dem Weg zur Tankstelle kamen wir an einem Tätowierer vorbei. Ich blieb stehen und sah Matthew vielsagend an.
„Deine Eltern werden dich dafür hassen"-er und zog die Augenbrauen hoch.
„Sie haben mir das letzte Jahr auch nichts zu sagen gehabt"-ich. Matt gab sich geschlagen und so hatte ich eine halbe Stunde später an meinem inneren Fußknöchel eine kleine Weltkugel tätowiert. Matthew ließ sich auf die Innenseite des Oberarmes einen kleinen Engel und einen Teufel tätowieren. Als Zeichen für uns. Es mag kitschig klingen und auf dumm, da wir schließlich nur ein Paar waren, aber dass, was wir durchgemacht hatten, konnte uns niemand nehmen und selbst wenn ich Matthew verlieren würde, würde mich dieses Andenken mein Leben lang daran erinnern, was mal war und durch welche Hölle ich gegangen bin – mit ihm.
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Remember Me.
Teen FictionDenn von Anfang an war eins klar: eines Tages würde ich gehen. Ich würde gehen und nicht wieder kommen. Was ich zurück ließ? So ziemlich alles.