Kapitel 33

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Marie's Sicht:

"Hey Mom"
"Oh, was machst du denn hier? Du warst schon lange nicht mehr da"
"Ja, ich weiß"

Auf die Frage, warum ich hier war, antwortete ich absichtlich nicht.

Wir standen im Eingang, von wo man in den alten Rosengarten kam. Schnell drehte ich meinen Blick von der Tür wieder in die ausladende Eingangshalle.
Viel hatte sich irgendwie nicht verändert, bis auf die Bewohner.

Aber was hatte ich auch erwartet?
Es war ein Altersheim. Sie veranstalteten hier nicht jedes Jahr eine große Renovierung.

Und die Menschen hier kamen und gingen. Sie waren hier alle sehr vergänglich. Die Zeit hier war vergänglich.

Ich hatte mir immer vorgenommen, dass wenn ich einmal alt bin, ich alles mache, was ich vorher nie getan hab. Weil mir die Zeit gefehlt hat oder sonst was.

Aber diese Leute hatten überhaupt nicht die Chance auf Fallschirm-springen oder vielleicht ein Tattoo.
Nein, sie saßen hier in diesem immer gleich aussehendem Haus und langweilten sich zu Tode. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Das, was meine Mutter hier tat, Stunde zu Stunde, tag zu tag, jahr zu Jahr, würde ich nie im Leben ehrenamtlich aushalten.

"Und geh jetzt Frau Fink frisch machen. Willst du zufällig mit?"
"Oh... äh... Nein danke"

Und so verschwand meine Mutter in einem der langen Flure, die zu den Zimmern führten und ich stand blöd rum.
Da ich auch nicht mehr zu J.J. konnte, weil er ja auch alles allein hinbekommt, und ich mich versichert hatte, dass er da war, verließ ich das Heim wieder.

Auf dem Weg nach Hause lief ich durch einen kleinen Park und ließ mir dabei extra Zeit. Es gab keinen Grund zu hetzen. Zuhause würde niemand auf mich warten.

Die Steine und das Laub knirschten unter mir bei jedem Schritt und irgendwie genoss ich es durch den Park zu gehen, wo nur manchmal ein paar Jogger oder Spaziergänger mit Hunden vorbeikamen.

Die Vögel zwitscherten zwischen den Bäumen und es gab kein anderes Geräusch als meine Schritte, meine Atmung und den Gesang der Vögel.

Doch plötzlich durchbrach ein kleines Schluchzen die Ruhe. Gannz leise, aber doch hörbar.
Ich sah mich um, dich es war niemand zu sehen.

Hatte ich es mir nur eingebildet?
Nein. Ich hörte es immer noch.
Aber von wo kam es? Ich ging in jede Richtung, hoffend, dass es irgendwo lauter würde.
Das tat ich ganze 10 Minuten, aber ich konnte nichts und niemanden sehen.
Rufen wollte ich nicht, denn sonst hätte ich ihn oder es wahrscheinlich verschreckt.

Als ich die Hoffnung schließlich aufgab und weiter ging, wurde das Weinen hinter einer alten, verkorksten Bank lauter.

Langsam bewegte ich mich auf die Bank zu und linzte darüber.
Ein kleines Mädchen mit kurzen, strubbligen Haaren saß dort, hatte die kleinen Beinchen an den Körper gezogen und das Gesicht in den Knien vergraben.

"Hallo?" , fragte ich leise.
Erschrocken drehte sie mir ihr Gesicht zu. Ihre großen blauen Augen waren weit aufgerissen. Sie hatte anscheinend nicht damit gerechnet, dass sie jemand hören und ansprechen würde.

Nachdem sie mich etwa 10 Sekunden lang angestarrt hatte, rappelte sie sich schnell auf. Sie war vielleicht nur einen Meter groß.
"Was machst du denn hier? Ist dir etwas passiert? "

Nach ein paar Sekunden schüttelte sie den Kopf.
"Und was machst du hier?"
"Ich... ich h-hab mich ver-verlaufen..."
Sie sah betreten auf den Boden und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht.

Plötzlich kam sie mir noch kleiner vor, als sie war, wie sie da verloren stand, versuchte die Tränen zu verbergen und sich nicht traute, mich anzusehen.

"Wo ist denn deine Mama? "
Sie zuckte die Schultern.
"Soll ich dir helfen?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Aber wie willst du denn sonst nach Hause kommen?"
Sie zuckte wieder nur mit den Schultern und dann sagte sie ganz leise:" Man darf nicht mit Fremden mitgehen"

"Ja, das stimmt, aber ich bin gut. Ich will dir helfen. Ich heiße Marie"
Sie sah mich durch ihre großen Augen kritisch an, als würde sie nach etwas suchen, das meine Worte lügen strafte.

Dann sah sie wieder auf den Boden und schüttelte wieder den Kopf.
"Du musst ja nicht an meiner Hand gehen. Du darfst jederzeit woanders hingehen"

Sie sah mich wieder an und ich erkannte, dass sie langsam anfing mir zu glauben.
"Ich heiße auch Marie. Aber ganz heiß ich Marie-Luise"
Langsam fing sie an zu lächeln und ich glaubte in diesem Moment, nie etwas schöneres gesehen zu haben.

"Komm, wir suchen jetzt deine Mama" Langsam nickte sie und kam hinter der Bank hervor. Allerdings behielt sie mich immernoch kritisch im Auge, was mich leicht schmunzeln ließ.

"Weißt du zufällig wie die Straße heißt, in der du wohnst"
"Und weiß nicht. Irgendwas mit einer Schlammgrube. Oder doch eine Lehmgrube? "

Auch wenn sie den Namen nicht genau wusste, wusste ich genau, was sie meinte.
In der Lehmgrube.
Das war eine kleine Straße im Neubaugebiet.

"Okay. Gut. Ich weiß, wo das ist. Weißt du auch deinen Nachnamen?"
Sie sah mich an, als wäre ich völlig dämlich.
"Natürlich weiß ich meinen Nachnamen. Ich heiße Marie-Luise Schubert. Aber jetzt musst du mir auch deinen ganzen Namen sagen."

"Ich heiße Marie Glas"
Sie lächelte mich an und in der Hälfte der Strecke griff sie nach meiner Hand und fing an über alles möglich zu erzählen.

"Und wenn ich groß bin, dann will ich in einem großen Haus wohnen. Natürlich mit einem großen Garten. Aber für den hab ich einen Gärtner, denn Mami hat immer Rückenschmerzen von der Gartenarbeit. Und ich arbeite in einem Geschäft, wo man Blumen verkauft, weil da riechts immer so gut. Und dann Krieg ich ein Kind. Ein Mädchen. Und das nenn ich Anna.
Ich weiß, dass Anna ein langweiliger Name ist, aber ich Find den schön. Mama Findet den nicht schön, aber es ist ja mein Kind. Und jeden Sonntag geb ich eine Teeparty. Mit Kuchen und Tee. Oder Kaffee. Aber Kaffee Find ich eklig..."

Bald erreichten wir die kleine Straße und ich verabschiedete mich von Marie-Luise.
Zu meiner Überraschung umarmte sie mich und sagte, dass sie mich irgendwann besuchen käme.

Als sie schließlich im Haus war, ging ich heim.

Leben Hinter GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt