Kapitel 1: Letzte Nacht

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Vorsichtig legte ich den Hörer weg und starrte gebannt die Wand an, denn ich wusste ehrlich gesagt nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Bis gerade eben war alles normal gewesen. Alles in Ordnung.

Aber innerhalb der letzten Minuten hatte sich mein normales Leben umgedreht. Ungläubigkeit, Verwirrungen und Vorwürfe an mich besetzten meinen Kopf und blockierten mein Denkvermögen. Ich wollte einen klaren Gedanken fassen, aber es kamen nur zusammengewürfelte Fetzen heraus, die mich nicht weiterbrachten.

Hatte sie etwas gesagt? Was waren ihre letzten Worte an mich? Waren das wohlmöglich de allerletzten, die sie jemals gesagt hatte? Ich wusste nichts mehr.

Meine beste Freundin Josie schien auf einmal nicht mehr zu existieren, nun wo ich sie dringend in meinem Kopf brauchte. Steif ließ ich mich auf mein Bett sinken, saß dort mit durchgestrecktem Rücken für ungewisse Zeit und tat einfach gar nichts.

Ich versuchte, den heutigen Tag zu rekonstruieren, so gut ich konnte.

Ich stand vor dem Spiegel im Schulklo und ich strich mir durch die struppigen schwarzen Haare. Mein dämlicher Wecker. Nie konnte er klingeln, wenn ich es brauchte.

Meine Reflektion sah müde aus, fertig von der letzten Nacht, die Josie und ich in einem Club verbracht hatten. Um 3 Uhr nachts war ich heimgetorkelt, das war wohl vor einem Schultag keine gute Idee gewesen, aber wir waren doch jung.

Josie hatte heute die bessere Idee gehabt: Sie machte wohl einfach blau, denn sonst hätten wir uns längst gesehen.

Oder sie war noch bei dem komischen Typen mit den ozeanblauen Augen, den wir gestern kennengelernt hatten. Er hieß, soweit ich mich erinnern konnte, Derek. Oder so.

„Hier." Eine meiner Freundinnen, ihr Name war Savannah, hielt mir eine Bürste hin und lächelte aufmunternd. „Du siehst ja aus, als hättest du in eine Steckdose gefasst, Licia."

Ich lächelte matt zurück. Da hatte sie Recht. Ich sah verdammt schrecklich aus, aber ich hatte keine Zeit gehabt, mich fertig zu machen. Ich hatte die Wahl zwischen Aussehen und Essen und da zog das Aussehen eben mal den Kürzeren.

Der Unterricht konnte mir gestohlen bleiben. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, auf dem Tisch ein Nickerchen zu machen und es störte keinen meiner Lehrer. Wahrscheinlich, weil sich das Schuljahr sowieso dem Ende zuneigte. Zwei Wochen noch, dann waren endlich Ferien. Die meisten Lehrer hatten genauso wenig Lust wie wir.

In der letzten Stunde, bei Frau Delber, war ich wach. Zu meiner eigenen Sicherheit, denn die Frau war eine Hexe. Savannah und ich saßen unsicher in der zweiten Reihe und wagten uns nicht, irgendwo hinzusehen, außer nach vorne an die Tafel, wo die Hexe, die auch noch Mathe unterrichtete, uns den Satz des Pythagoras in den Kopf meißeln wollte.

„Wenn sie könnte, würde sie aus uns eine Suppe machen", wisperte Savannah mir zu und mir war klar, dass dies kein Witz war.

Ich schüttelte mich. Das wars. Ich hatte mir keine großartigen Gedanken über den Verbleib von Josie gemacht.

Ich biss mir auf die Lippe. Seit gestern war sie nicht nach Hause gekommen, hatte ihre Mutter mir, fast schon vorwurfsvoll, gesagt.

Es muss ja nichts heißen, versuchte ich mich zu beruhigen. Vielleicht hat sie ja wirklich bei diesem Derek geschlafen. Und kommt bald nach Hause.

Aber eigentlich traute ich ihr das nicht zu. Sie war 16, würde in zwei Monaten 17 werden. Sie träumte von der großen Liebe, nicht von One-Night-Stands und sie würde nicht zu einem Typen, den wir erst kennenlernten und dann noch bei ihm schlafen. So naiv war sie nicht.

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