Kapitel 9: Erkannt

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Ehe ich am Boden ankam, streckte er einen Arm aus, umfasste meinen Arm mit seiner Hand und zog mich mit hohem Krafteinsatz hoch, bis ich an seiner Brust lag und mein Schniefen versuchte, zu unterdrücken.

Seine Hand rieb mir vorsichtig über den Rücken. „Ist schon gut", meinte er mit einer sehr beruhigenden Stimme. „Komm, wir gehen raus."

Ich nickte und ergriff seine Hand. Ich fühlte mich so dämlich, wie ein kleines Kind, als ich mit Chad zusammen das Schulhaus verließ.

„Was ist denn...passiert...?", fragte er vorsichtig, als wir uns auf der Wiese unseres Pausenhofes auf einem großen Stein niederließen und ich aus meiner Handtasche einen Kamm zog und mir durch die Haare ging.

Ich erzählte ihm alles. Von der Sache mit Miles bis zu dem Punkt, dass Daniel oder sonst jemand mich gar nicht liebte. Dass alles nur gespielt war. Theater, um ein Image zu erhalten, dass so viel wert war, wie der Pfund nach dem Brexit.

Ich wollte etwas Echtes. Ich wollte nicht mehr spielen. Ich wollte meine beste Freundin finden, auch wenn ihr Auftreten wohl genauso eine Fassade gewesen war.

Er unterbrach mich nicht, sondern hörte ruhig und aufmerksam zu, bis ich schniefend geendet hatte. Dann nickte er stumm und dachte wohl darüber nach, was er zu mir sagen musste, damit ich mich nicht von der nächsten Brücke warf.

Er sagte nichts, stattdessen zog er ein Taschentuch und hielt es mir hin. „Unbenutzt, keine Angst", grinste er mich an und ich lächelte dankbar.

„Vielleicht ist es besser, wenn du erstmal ein bisschen Abstand zu Daniel hältst", meinte er vorsichtig. „Du weißt schon, bis sich hier alles ein bisschen gelegt hat, sonst bekommt ihr noch einen riesigen Streit wegen nichts und wieder nichts."

Ich nickte vorsichtig und schnäuzte mich dann. Wohlmöglich hatte er Recht, wir sollten nichts überstürzen. Vielleicht gäbe es ja dann doch noch ein Happy End für uns, auch wenn ich daran nicht glaubte. Oder wollte ich einfach nicht?

„Die Bullen sind kein Stück weiter", fuhr er dann fort. „Die haben eine Fahndung gemacht, aber nichts gefunden."

„Die sind auch für nichts zu gebrauchen." Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen und diese kullerten sogleich meine Wangen hinunter.

„HEY!" Savannah kam auf uns zugestürmt. Und sie interpretierte gleich hinein: Sie sah ich, weinend, daneben einen dämlichen Footballer, der mal Josie belästigt hatte. „Spinnst du?"

Ertappt sprang Chad auf, auch wenn er keine Ahnung hatte, was sie von ihm wollte. Sav lief direkt auf ihn zu und begann sogleich, auf seine Brust einzuschlagen. „Ihr Jungs seid doch alle gleich!", schrie sie, während er versuchte, ihren Schlägen auszuweichen. „Dämliche Arschlöcher! Geh weg! Kusch!"

„Ist okay, Sav." Ich stellte mich beschützend vor Chad, der immer noch verdutzt aus der Wäsche glotzte und nicht ganz zu verstehen schien, was gerade geschehen war. „Er hat mich nur getröstet."

„Daniel." Sie hatte es erfasst. Ich musste gar nichts mehr sagen, schon stöhnte sie genervt auf. „Wow, er ist echt nicht wert, Alicia. Beende es."

„Ich glaube, das hab ich getan." Jetzt war sie verblüfft, reagiert aber schnell und legte mir einen Arm um die Schultern. Gemeinsam setzten wir uns zurück auf den Stein.

„Oh, mhm, willst du...darüber reden?" Sie schien nicht genau zu wissen, was sie sonst sagen sollte. Ich schüttelte den Kopf und versicherte ihr mehrmals, dass alles gut war.

Und ich erzählte ihr, was Chloe zu Miles gesagt hatte. Savannah richtete sich sofort kerzengerade auf und hörte interessiert zu. „Mhm. Versteh das nicht falsch, aber ist es nicht seltsam, wenn sich genau die beiden...treffen...?"

Ich nickte. „Ja, das dachte ich auch. Ich wüsste zu gerne, was sie wichtiges zu besprechen haben."

Savannah grinste. „Das lässt sich herausfinden. Heute Mittag um drei?"



In der Cafeteria war heut nicht viel los. Zu meinem Glück hatten die Footballer irgendetwas geplant und so waren weder Daniel, noch seine komischen Kumpels, noch Chad anwesend. Ich hätte es nicht sonderlich gut vertragen, ihn zu sehen.

Dafür stand in der Reihe vor mir ein anderer, nur zu gut bekannter, Junge, der mir immer wieder böse Blicke zuwarf.

Dillon McEvans. Seit wann war der denn wieder in der Schule?

„Hayes", riss seine raue Stimme mich aus den Gedanken. „Na, lange nicht mehr gesehen? Immer noch dieselbe wie früher?" Seine Stimme quietschte und man sah ihm an, dass er bei jedem Wort, das er aussprach, schreckliche Schmerzen haben musste.

Unsicher sah ich auf meinen Teller. Alles, selbst die braune Grütze, die wir heute serviert bekamen, war besser als ihn seine beschuldigenden Augen zu blicken. „Seit wann bist du denn wieder hier?"
„Ach, nach einem Jahr voller Schmerzen und geplatzten Träumen dachte ich, es wäre nett, euch wiederzusehen."

Ich drehte mich um und lief weg in Richtung von Savannah und Eliza, die mir schon zu winkten. Ich drehte mich nicht mehr um, ich wollte ihn nicht mehr sehen.

„Er ist also wieder da", meinte Sav und ließ ihn nicht aus den Augen. „Kann er reden?"
Ich nickte schnell. „Mehr oder weniger." Dann stopfte ich mir einen Löffel Grütze in den Mund, die gar nicht so schlecht schmeckte, wie sie aussah, um nicht weiter reden müssen.

„Sieht aus, als holt dich die Vergangenheit", sagte meine Freundin Eliza und ich brachte sie mit einem bösen Blick zum Schweigen.



Es gibt verschiedene Sorten von Psychopathen. Viele. Das heißt aber nicht, dass man sie unterschätzen sollten. Ein Psychopath ist ein Psychopath.

Aber in jedem von uns steckt einer.

Narzisstische Psychopathen zum Beispiel: Als solchen würde ich Daniel einstufen. Immer auf sich bedacht und sich sicher, er sei der beste, wobei er andere immer schlecht macht. Das könnte sein.

Oder ein paranoider Psychopath: So gern ich sie hab, das könnte sogar Savannah sein, die hinter jedem Niesen eine Verschwörung sieht und sich so sehr in etwas reinreiten kann, dass sie den Unterschied zwischen Fiktion und Realität verliert.

Oder Officer Dull mit ihrem Kontrollzwang. Das konnten alles Hinweise auf Psychopathie sein. Man konnte ihnen nachgehen oder es einfach gut sein lassen.

Ich wollte es gut sein lassen.

Denn schlimmer als Psychopathen die sich ihrer Abartigkeit gar nicht bewusst waren, waren die, die diese Eigenschaft sogar nutzten. Um anderen zu schaden. Um andere zu verletzen. Und das nur, weil sie etwas hatten, was man selbst nicht hatte.

Kaltblütig das Leben andere zerstören und sich hinterher kein bisschen schlecht fühlen.

Das waren die wahren Psychopathen. Die, die man wegsperren solle.

Ein kalter Schauer fuhr mir über den Rücken und ich begann zu zittern.

Das sind wir.

Josie und ich.

GoneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt