Kapitel 46: Abschied

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Schwarz stand mir nicht. Ich wirkte tot und nüchtern und genau das war ich ja auch irgendwie. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, unfähig, mit irgendjemandem zu reden. Es war kalt und nur die vielen Kerzen, die überall platziert waren, erhellten die riesige Kirche spärlich. Unheimlich und gefährlich, so fühlte es sich hier an.

Daniels Eltern würdigten mir keinen Blickes: Entweder, weil ich in dieser Zeit null da gewesen war oder weil sie wussten, dass er und ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr zusammen gewesen waren. Da sie die ganze Zeit mit Beth unterwegs waren, war es wohl eher letzteres.

„Ist es nicht grotesk, dass sie eine Party schmeißt, so kurz nachdem ihr Freund gestorben ist?", wisperte Savannah, die an meiner linken saß, mir zu.

„Nicht, wenn es eine Ich-hab-ihn-erledigt-und-niemand-hat-es-gemerkt-Party ist", erwiderte Chad, der zu meiner rechten saß, so leise wie möglich.

Die Frau, die sich neben ihm ordentlich schnäuzte, sah ihn empört an. So leise war er dann wohl doch nicht gewesen. Entschuldigend zuckte er mit den Schultern und sie wandte sich ab.

Ich sagte nichts und ließ stattdessen meinen Blick durch die Reihen wandern. So viele bekannte Gesichter aus der Schule waren hier und jeder wirkte so betroffen, als wäre es der eigene Sohn gewesen. Und insgeheim hatte jeder etwas gegen diesen Proleten gehabt. Nun spielten sie alle die traurigen Engel.

Ich schüttelte mich und ließ mich zurück auf die holzige, kalte Kirchbank sinken, die mindestens so tot war wie ich. „Ich versteh es immer noch nicht." Meine Augen suchten nach Miles, den ich aber nirgends entdeckte. Fast schon enttäuscht starrte ich daraufhin die mit Bildern von verschiedensten Menschen verzierte Decke an, die jeden Moment über mich hereinzubrechen schien.

„Warum er gestorben ist? Oder warum sein Leichnam freigegeben wurde, obwohl es keinen Mörder gibt?", vergewisserte sich Chad.

Ich zuckte mit den Schultern. „Warum das alles uns passiert. Was wir Böses getan haben, um das zu verdienen. Was Daniel damit zu tun hat. Warum das nicht alles einfach ein Ende finden kann."
„Es kann ein Ende finden", meinte Chad und versuchte nun wirklich, so leise wie möglich zu sprechen. „Wenn die Baghoo-Typen uns finden, bevor wir sie finden."

Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken. Es klang grausam, aber er hatte Recht. Wenn sie schon Daniel sowas antaten, was würden sie mir und Chad antun. Schließlich wussten sie, dass wir ihre Existenz kannten und hatten herausfinden wollen. Wir waren damit wohl sowas wie die Hauptziele.

Savannah rollte mit den Augen und nahm meine Hand in ihre. Sie war eiskalt. „Wollen wir ihm nochmal Tschüss sagen?"

Ich schluckte bei dem Gedanken, nach vorne zu laufen, wo der riesige Holzsarg thronte, in dem sich der Junge befand, mit dem ich ein Leben geteilt hatte. Aber ich erhob mich.

Ich musste damit abschließen und mich irgendwie auf die Zukunft konzentrieren.

Chad erhob sich ebenfalls und gemeinsam schlurften wir wie Zombies an etlichen bekannten Gesichtern, die uns hauptsächlich mitleidig ansahen, vorbei und ehe ich mich versah stand ich direkt vor dem Holzmonster.

Es war, als könnte ich seinen Atem innerhalb des Sarges hören und ich zuckte zusammen. Er keuchte, als würde er gleich sterben. Ich erinnerte mich aggressiv daran, dass er das bereits war und ich mir nichts einbilden sollte.

Daniel war Tod. Er würde nicht mehr in der Schule auftauchen, mich in die Arme nehmen, Football spielen oder dämliche Kommentare machen. Und vor allem würde er nicht einfach aus einem Sarg springen.

Und dennoch war es, als spürte ich sein Herz klopfen und das Blut durch seine Adern rauschen.

Der Gedanke, dass sich daran eine Leiche befand, die zu Lebzeiten einer der besten Footballer war und zu dem Zeitpunkt kurz vor ihrem Tod nicht einmal mehr in der Lage gewesen war zu laufen, verstörte mich zutiefst. Ich wollte ihn eigentlich in Erinnerung behalten, wie er war, aber sein Tod ließ mich nicht los. Wer konnte so grausam sein, das zu tun? Wer konnte jemanden, der gerade dabei war zu sterben ausbluten lassen? Jemand, den man noch hätte retten können.

Er wäre nie wieder derselbe gewesen.

Aber lebendig.

Savannah und Chad neben mir starrten ebenfalls nur ausdruckslos das strahlende Holz an und dachten wohl ungefähr dasselbe. Alle anderen Leute taten uns gleich, nur wussten die nicht, was wir wussten. Sie wussten nicht, dass es dort eine Gruppe gab, die Menschen auslöschte, wie es ihnen passte und das nur wegen einem dämlichen Aberglauben.

„Er hat es nicht verdient." Ich zuckte zusammen und hüpfte automatisch ein Stück nach vorne, wobei ich fast gegen den Sarg gestoßen wäre, der seitlich auf einem weißen Tischchen platziert war.

„Milene", hauchte ich erschrocken. „Kannst du nicht wie normale Menschen mit dem Gesicht anderer Leute reden?"

Sie trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock an und wirkte wirklich mitgenommen. Müde, leere Augen betrachteten mein schwarzes Kleid, über dem ich nochmal einen schwarzen Cardigan gezogen hatte, damit es nicht anzüglich wirkte.

„Schön, dich mal wieder zu sprechen. Schade, dass es auf so einer Veranstaltung ist." Sie strich sie mit schwacher Hand durch die dunklen Haare.

Milene war bei der Schülerzeitung und die schlimmste Rivalin von Nora. Mit ihr zusammen war ich heimgerannt, als Miles sich in ihr Tablet gehackt und uns seltsame Nachrichten geschickt hatte. Seltsam, dass sie nie um ein Exklusiv-Interview deswegen gefragt hatte.

„Ja." Mehr brachte ich tatsächlich nicht heraus.

Savannah stellte sich schützend vor mich. „Milene, wenn du wieder so ein dämliches Interview willst, dann ist das echt taktlos", fauchte sie sie an.

Milene schüttelte langsam und träge den Kopf. „Nein", seufzte sie. „Nein, will ich tatsächlich nicht. Ich bin hier, um mich zu verabschieden. Wir hatten nie viel zu tun, aber sein grausamer Tod hat mich echt geschockt."

Ich schluckte. „Ja..." Ein anderes Wort konnte ich in diesem Moment wirklich nicht sagen.

Aber Milene wechselte das Thema, als hätte man bei ihr einen Schalter umgelegt. „Aber wo wir uns treffen, Alicia. Ich war vorhin zufällig hinter Chloe und Nora gesessen und die haben irgendetwas über einen Plan gegen dich an Beths Party gefaselt. Ich weiß nicht, was, aber vielleicht ist es besser, du gehst da einfach nicht hin. Seit der Sache mit deiner Schwester traue ich denen nicht mehr über den Weg."

Ich lächelte leicht. „Danke." Ich meinte es ernst. Ich war ihr wirklich dankbar, dass sie mir das sagte. So seltsam es auch klang. „Aber ich gehe hin." Sie wusste ja nicht, dass auch ich einen Plan hatte, den ich unbedingt durchsetzen musste, bevor es zu spät war.

Sie nickte nur langsam. „Du musst es ja wissen."

Auch ich nickte nur, nahm dann noch einmal tief Luft und drehte mich dann zu Daniels Sarg. Ich schloss meine Augen und dachte an ihn. Wie er lachte, wie er schrie, einfach, wie er gewesen war und wie er in meiner Erinnerung sein sollte.

Der Anblick seiner ausgebluteten Leiche funkte immer wieder dazwischen, aber ich kämpfte gegen diese Erinnerung an.

Und wieder hatte ich das Gefühl ihn atmen, sogar gedämpft schreien zu hören. Ich kniff die Augen fest zusammen und wünschte, es würde vergehen, ich würde mich endlich erholen, als Chad mich leicht antippte.

Ich öffnete meine Augen und sah ihn an. Er sah aus wie ein Geist, blass und erschrocken erwiderte er meinen Blick. „Alicia", sagte er mit heiserer, zittriger Stimme, die ich nicht von ihm kannte. „Entweder, ich werde verrückt oder Daniel ist nicht so tot, wie wir gedacht hatten."

Und genau in diesem Moment sprang der Sargdeckel auf und etwas prallte mit einem lauten Schrei direkt in unserer Gruppe hinein.


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