Kapitel 2: Hör auf ihn

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„Vielleicht schläft sie." Sowohl Savannah, als auch ich, wussten, dass dieser Vorschlag wohl eher nicht sein konnte. Sie würde uns nicht so lange im Ungewissen lassen. Das war nicht ihre Art. Erneut checkte ich meine Chats. Ihr Name war unberührt. Letzte Nachricht gestern Mittag. Bereit, Bae?

Wir waren im Club. Wir hatten gefragt. Niemand konnte sich auch nur an sie und mich erinnern. Kein Wunder, es waren so viele dagewesen. Auch Derek schien unbekannt zu sein.

Ich nahm einen Zug der Zigarette, die Sav mir angeboten hatte. Ich rauchte eigentlich nicht. Aber ich hatte Angst. Ich musste mich irgendwie beruhigen. Es half nicht.

„Erinnerst du dich an irgendetwas, was sie gesagt hat?"

Ich überlegte. Aber mir fiel nichts auf, dass irgendwie besonders war. Es war alles wie immer. „Nein. Sie wollte nur mal wieder weg."

Ich wusste, dass sie es nie leicht hatte. Ihr Stiefvater war Alkoholiker, dem öfter mal die Hand ausrutschte, die Mutter unterwürfig. Sie brauchte jemanden, der sie züchtigte.

„Sie ist eine elende Schnepfe. Sie verdient alle Schläge der Welt.", hatte sie mir einmal gesagt und ich hatte nicht verstehen können, warum sie so etwas über ihre eigene Mutter sagte. Aber mit der Zeit hatte ich die Familie kennengelernt, und mir wurde bewusst, warum sie so redete.

„Und im Club? Wie war sie da?"

„Sie war wie immer. Einmal ist sie kurz mit Derek verschwunden, sie hatten wohl was zu besprechen."

„Aber ihr habt Derek doch erst dort kennengelernt? Was hatten die denn da schon zu besprechen?" Ich sah sie an und zog meine Augenbrauen hoch. „Ohhh, rummachen. Schon klar."

Savannah stieß Rauch aus. „Seltsam, dass sie nicht aufgefallen ist. Sie war doch so hübsch." Für einen kurzen Moment sogen wir beide stark Luft ein. „Sie ist hübsch. Tut mir leid."

„So kommen wir nicht weiter." Ich drückte die Zigarette im Gras aus und sah den Hügel hinunter. Unsere Stadt kam mir manchmal ganz abgeschnitten vom Rest der Welt vor. Um Ravensky herum waren die schönsten Landschaften. Zur nächsten Stadt brauchte man tatsächlich 20 Minuten. Sonst waren hier nur Dörfer.

„Nehmen wir an, sie wäre entführt worden", sprach ich es aus und ich spürte, wie Savannah neben mir zusammenzuckte. „Die Täter müssen aus Ravensky oder dem Umkreis kommen. Sonst kommt niemand hier her."

Sav nickte und sprang auf. „Komm mit." Ich tat ihr gleich, auch wenn ich nicht wusste, was sie vorhatte. „Wir wenden uns an einen Experten."

Er öffnete selbst die Tür. Und schien überrascht.

Und ich war nicht weniger überrascht, dass wir ausgerechnet zu dem gingen.

„Miles McAbott?", fragte ich ihn ungläubig, als wäre ich mir nicht sicher, ob er das war. Er zog nur die Augenbrauen zu. „Sav? Auf ein Wort?" Mit diesen Worten zog ich sie vor der Tür des verdutzten Jungens weg.

„Was willst du denn mit dem?", fragte ich so leise ich konnte, aber seinem Gesicht zu urteilen, wusste er, was ich sagte.

Miles ging ebenfalls auf unsere Schule. Er galt als ziemlicher Nerd und ich mied ihn eher. Daniel machte sich öfters über ihn lustig, das wusste ich. Mehr hatte ich auch nicht mit ihm zu tun, als manchmal über ihn zu lachen.

„Er ist intelligent. Er wird uns mehr helfen als dein, ach so toller, Daniel." Das Argument zählte nicht. Selbst ein Backstein wäre hilfreicher als mein Freund.

„Hast du schon vergessen, dass er Josie hasst?" Ich wollte es eigentlich nicht mehr erwähnen, aber ich musste wohl. „Der Vorfall."

Sie sah unsicher zu ihm. Er hatte unsere Lippen genau fixiert. Sie drehte sich mit dem Rücken zu ihm. „Das war nicht ihre Schuld. Es war eure gemeinsame, du kannst dich da nicht rausreden." Mich traf das. Aber sie hatte Recht.

„Noch ein Grund weniger, uns zu helfen."

Sie zuckte mit den Schultern. „Wir müssen es wohl versuchen, wenn wir sie finden wollen. Sein Vater ist Polizist. Er hat Zugriff zu vielen Akten. So auch vielleicht Akten über Derek."

„Ich kenne nicht einmal seinen Nachnamen."

„Das macht die Sache schwieriger, aber nicht unmöglich."

Ich seufzte. Sie hatte da wohl nicht ganz Unrecht und wir brauchten jede Hilfe, die wir bekommen könnten.

„Und vergiss nicht, sprich immer nur, wenn er dich ansieht", wisperte sie mir noch zu, obwohl sie das nicht musste. Er würde es nicht hören, das war klar.



Wir knabberten die Kekse, die uns seine Oma freundlicherweise hingestellt hatte. Er hatte wohl nicht viele Besucher, da freute sie sich besonders, wenn so zwei „hübsche Mädchen wie wir", wie sie sagte, vorbeikamen.

Er saß uns gegenüber und betrachtete unsere Lippenbewegungen genau, als könnte er etwas verpassen. Tat er nicht, wir aßen ja nur, unsicher, was wir sagen sollten.

„Josie ist verschwunden", erbarmte ich mich irgendwann, die Stille zu brechen. „Wir wollen sie finden."

„Verschwunden?" Seine Stimme wirkte unkontrolliert. Ob er sie hörte? „Ich hab sie heute nicht in der Schule gesehen. Das ist alles."

Ich begann, ihm die Geschichte des gestrigen Abends zu erzählen und versuchte, so langsam wie möglich zu sprechen und meine Lippen dabei so langsam wie möglich zu bewegen. Er nickte, er verstand.

„Soweit ich weiß, gilt jemand erst als vermisst, nachdem er 48 Stunden nicht aufgetaucht ist. Das ist sie ja nicht." Er klang kalt, gleichgültig. Wer könnte es ihm verdenken?

„Und in diesen 48 Stunden, die wir so verbrauchen würde, könnte sie sterben. Mit jeder Minute, die wir vergeuden, ist die Möglichkeit, dass sie stirbt, höher." Savannah klang nicht vorwurfsvoll. Es hätte auch keinen Sinn gehabt vor ihm.

Er nickte erneut. „Und was wollt ihr dann bei mir?" Seine Stimme war lauter als unsere. Er konnte es nicht einschätzen, wie er sprach, nahm ich an.

„Wir brauchen Information. Über diesen Derek", erklärte ich ihm ruhig. „Und wir hatten wirklich gehofft, du hilfst uns." Ich klang flehend und ich gab mir Mühe, dass mein Gesicht genau das ausstrahlte, was ich mit meiner Stimme sagen wollte.

Er überlegte nicht lange. „Ich helfe euch." Ich atmete sichtlich erleichtert auf. Er hätte nein sagen können. Wenn man bedachte, was er wegen uns hatte durchmachen müssen. „Aber wenn wir sie finden, dann musst du mir etwas versprechen, Alicia."

Ich zuckte auf. Nicht weil er meinen Namen kannte, er hatte ihn heute nur zum ersten Mal gesagt.

Ich nickte. Er lächelte. „Wenn wir sie wirklich finden, dann werdet ihr euch öffentlich stellen. Ihr werdet zugeben, was ihr getan habt. Und dann wechselt ihr die Schule. Und ihr kommt nie wieder in meine Nähe."


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