Kapitel 35: Boxauto

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Meine Finger krallten sich im Stuhl fest. Er war kein Kind mehr gewesen, sondern fast erwachsen. Er hatte Familienprobleme. Fast dieselben, wie Josie hatte. Die Gemeinsamkeiten waren erschütternd. Auch die Tatsache, mit der fremden Nummer, beängstigte mich.

Auch Chad schien sich instinktiv damit zu beschäftigen. Abwesend starrte er den Schreibtisch an. Oder eher etwas, das auf dem Schreibtisch stand. Ein Bild, von einer Familie.

Ich war zu aufgeregt, um es genauer betrachten zu können. „Der andere Vermisstenfall", bemerkte ich dann mit lauter, ungebremster Stimme. Ich musste es wissen. „Josie Baxter. Was ist mit ihr? Sie ist fast 17."

Er nickte. „Abgebrochen. Gleicher Grund." Mein Herz blieb stehen. Sie beschäftigten sich nicht einmal mehr mit dem Fall. Sie war verloren.

„Sie würde nie..." Aggressiv stand ich auf, sodass mein Stuhl laut nach hinten krachte, als es an der Tür klopfte. „Sie können doch nicht einfach die Suche beenden!"

„Naja." Er visierte den Stuhl an, der nun trostlos auf dem Boden lag. „Es ist bei der Familie ja..."

Weiter kam er nicht, da ich mich erbost auf den Schreibtisch lehnte. „Das kann doch nicht ihr ernst sein! Ich weiß, dass die Polizei wenig drauf hat, aber das ist lächerlich!" Ich fuchtelte wild mit den Händen herum und warf dabei ausversehen das Bild vom Tisch, das krachend zu Boden ging. Es klopfte erneut.

„Herein!", meinte der Polizist, während ich mich entschuldigend bückte, um das Bild aufzuheben. Die Tür wurde geöffnet und Chad schnappte nach Luft.

Ich drehte das Bild an. Das Glas war zersplittert, verdammt. Dann fiel mein Blick auf die Menschen, die darauf zu sehen war. Der Polizist, eine Frau und offenbar ihr Kind.

Ich hielt die Luft an. Miles McAbott.

„Dad, du musst noch das unterschreiben...", ertönte die wohlbekannte Stimme und wie vom Blitz getroffen sprang ich mit dem Bild in der Hand auf und sah ihn ertappt an. Meine Hand verkrampfte sich und ich spürte, wie sich die Glasscherben in meine Handfläche bohrten.

Miles hatte ein Blatt in der Hand, sah mich aber geschockt an. Er wusste offensichtlich nicht, was er sagen sollte. Sein Mund öffnete und schloss sich immer wieder, heraus kam jedoch nur ein Stammeln.

„Miles", ertönte die Stimme des Polizisten besorgt. „Ist alles in Ordnung mit dir?"

Miles hörte ihn nicht. Natürlich nicht. Er verstand ihn aber auch nicht, da er nur zu mir sah. Der Polizist seufzte leise auf.

Das Blut tropfte von meiner Hand auf den Boden und Chad krallte sich das Bild und legte es zurück auf den Tisch. „Danke für das Interview", übernahm er für mich, umklammerte dann mein Handgelenk und zog mich heraus, am staunenden Miles vorbei. „Tschüss! Schönen Tag noch!"

Wir verließen das Haus so schnell wir nur konnten. Ich verstand nicht, was gerade passiert war.

„Wir haben tatsächlich Miles Dad interviewed", sprach Chad es geschockt aus. „Das hätte uns mal früher bewusst werden können. Nicht erst, als ich das Bild gesehen hab. Verdammt. Die haben wirklich Ähnlichkeit."

Ich schaffte es nicht, ein Wort herauszuwürgen. Aus meinem Mund kamen nur undefinierbare Laute. Meine Hand schmerzte, aber ich war zu aufgebracht, um mich auf den Schmerz einzulassen.

Während wir liefen, hinterließ ich eine kleine Spur an Bluttropfen und drehte mich noch einmal entschuldigend zur hübschen Azubi-Polizistin um, die wahrscheinlich alles wegwischen durfte. Sie seufzte nur und stand auf, wohl um Putzsachen zu holen.

„Alicia!", ertönte Miles Stimme nicht weit von uns und wir machten noch einen Schritt schneller. „Alicia! Bleib stehen!"

„Sicher nicht", wisperte Chad, zog mich auf seinen Rücken und erhöhte das Tempo. „Darauf hab ich jetzt echt keine Lust. Ne Vorstrafe können wir nicht gebrauchen." Nein, wirklich nicht.

Dennoch konnte ich es nicht lassen, ich musste meinen Kopf drehen und zu ihm schauen, wie er uns, mit hochrotem Kopf, hinterhergerast kam. Wir waren schon auf dem Parkplatz angelangt und steuerten auf Chads Auto zu, aus dem Savannah sprang und auf uns zu rannte, bis sie bemerkte, dass wir verfolgt wurden.

„Tut mir leid! Bin eingepennt", entschuldigte sie sich überschwänglich und sah dann meine Hand an, die inzwischen auf Chads Brust tropfte. „Sag mal, was habt ihr denn getrieben? Ich wusste nicht, dass aus einem Interview grundsätzlich einer Messerstecherei wird. Und warum ist Miles hinter euch her?!"

Chad drückte seine Hand gegen ihren Kopf und drehte sie um. Dann schob er sie auf das Auto zu. „Keine Zeit, Sav. Setz dich einfach rein."

Ausnahmsweise gehorchte sie ihm und nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während ich beleidigt auf den Rücksitz krabbelte und er sich hinter das Steuer setzte und augenblicklich den Motor startete. Miles war ziemlich nah und er schrie aufgebracht auf, als das Auto sich in Bewegung setzte.

Er begann zu rennen, während Chad noch umwendete und ehe er sich versah, hatte Miles sich auf die Motorhaube geworfen und sah mich mit feurigen Augen an. Empört schrie Chad auf.

„Na warte!" Er drückte volle Kanne aufs Gaspedal. Wir schrien auf, aber Miles klammerte sich seitlich fest, so gut er konnte. Chad knurrte und bremste stark, aber er konnte ihn einfach nicht abschütteln. Miles hing wie eine Klette an seinem Auto.

Chad stellte den Motor ab und legte den Kopf in den Nacken. Dann entsicherte er die Türe und ich sprang aus dem Auto.

Miles richtete sich zitternd wieder auf und klopfte seine Kleidung aus. Ich stürmte auf ihn zu und bevor ich denken konnte, landete meine flache Hand mit einem lauten Klatschen in seinem Gesicht. Geschockt sah er mich an und ich guckte wohl auch nicht anders.

„Spinnst du!", schrie ich ihn an. Ich war außer mir. „Du bist doch total blöd!"

Er blickte meine blutverschmierte Hand an. „Ich?" Er zog seine Augenbrauen nach oben und hielt sich die rot werdende Wange. „Wer ist hier gerade aus einer Polizeistation rausgestürmt?"

„Wusstest du es?", fragte ich mit Tränen in den Augen und starrte ihn hasserfüllt an. Ich dachte gar nicht daran, auf ihn einzugehen. Was ich tat und was ich nicht tat, war ja wohl immer noch meine Sache.

Er seufzte. „Was?"
„Du weißt, was ich meine."

„Ich nehme an, du redest davon, dass sie Josies Fall abgebrochen haben."

Ich schluckte. Er hatte es gewusst. Erneut landete meine Hand in seinem Gesicht. Er rührte sich nicht. „Du Arschloch", wisperte ich und drehte mich zurück zum Auto, wo Chad und Savannah mich besorgt ansahen. Langsam bewegte ich mich wie in Trance darauf zu.

„Alicia." Seine Stimme klang ruhig. „Bitte bleib hier." Er hatte einen versöhnlichen Ton angeschlagen. „Lass uns reden. Bitte."

Ich legte meinen Kopf in den Nacken. Savannah und Chad nickten mir leicht zu, dann drehte ich mich zu ihm um. „Gut, reden wir."


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