Kapitel 22: Familienzuwachs

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„Um das nochmal zusammenzufassen." Die Wangen meiner Mutter waren gerötet, ihr restliches Gesicht jedoch blass. Sie sah aus, wie ein betrunkener Geist. Jedoch blickte sie momentan eher Miles und mich an, als wären wir die Gespenster. „Du jagst mir den größten Schrecken meines Lebens ein. Dann kommst du heim, als wäre nichts gewesen und bittest mich einfach so darum, ein 11-jähriges Mädchen und einen..." Sie betrachtete Damon, der mit einem gesenkten Ohr neben mir saß und glücklich mit dem Schwanz wedelte. „Hund..? Jedenfalls willst du, dass ich beide adoptiere?"

Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, nickte ich einfach stumm. Wenn ich mir das von ihrer Position anhörte, klang das vielleicht wirklich ein bisschen krass.

„Ms. Hayes", sprang Miles für mich ein. Unter unserem Tisch, an dem wir uns alle gegenüber saßen und mit alle meine ich mich, Miles, meine Mom, meinen kleinen Bruder Theo, Damon und die Polizistin, drückte er fest meine Hand. „Sie müssen das ja nicht überstürzen. Vielleicht nehmen sie Kelly erstmal ein paar Tage hier auf und schauen, wie sich alles entwickelt. Sie braucht jemanden."

Meine Mutter schien nachzudenken, aber überzeugt wirkte ihr Gesicht nicht. Sie schlug die Beine übereinander und vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Ich hab schon alle Hände voll zu tun und das nur mit zwei Kindern. Kelly und..." Erneuter Blick zum winselnden Damon. „Der Hund..? Naja, ich weiß nicht, ob ich das schaffen könnte. Es ist nicht leicht, seit Marius...Alicias Dad...nicht mehr hier bei uns ist."

„Wir können sie auch ins nächstgelegene Waisenhaus bringen." Die Polizistin hatte eine sehr beruhigende Stimme. Ich war noch an die Militärschnalle gewöhnt. „Da könnt ihr sie so oft besuchen, wie ihr wollt. Von dort findet ein süßes Mädchen wie sie bestimmt eine neue Familie, die gut für sie sorgt."

Mein Blick wanderte zu Kelly, die seelenruhig auf unserer Couch schlief, während der Fernseher flackerte und ihr Gesicht abwechselnd in hell und dunkel tauchte. Ich wollte sie nicht wieder ins Ungewisse schicken. Wer wusste, an wen sie dort geraten könnte.

„Sie hat doch niemanden außer uns...", gab ich leise zu bedenken und unterdrückte meine Tränen. Ich hatte heute genug geweint.

Das Problem, weswegen die Polizistin mich und Miles unterbrochen hatte, war folgendes: Kelly war nicht normal entführt worden. Also auf einem Spielplatz oder dem Nachhause weg. Die Täter hatten sich übers Internet mit ihr angefreundet und viel über sie erfahren.

In einer Nacht waren Kellys Eltern im Kino und sie alleine zu Hause. Das war die Nacht, in der die Täter zuschlagen wollten. Jedoch waren Kellys Eltern früher zurück als gedacht.

Und wurden von den Tätern einfach ermordet.

Ich schüttelte mich bei dem Gedanken daran, dass Kelly wohlmöglich sogar dabei hatte zusehen müssen. Sie war so jung und hatte doch schon die grausamsten Seiten der Welt kennenlernen müssen.

Meine Mutter seufzte. „Das ist nicht so einfach, wie du denkst. Das Geld reicht hinten und vorne nicht, Alicia."

„Geld wäre kein Problem. Sie erhalten Kindergeld und eine zusätzliche soziale Leistung für Kelly", schilderte die Polizistin. „Aber wie gesagt: Das Waisenhaus wäre bereits informiert."

Ich fröstelte. Wie das schon klang. Waisenhaus. Richtig grauenhaft.

Sollte Kelly sich nun schon wieder an eine neue Umgebung gewöhnen?

„Wir könnten sie doch adoptieren", stieß ich unbedacht heraus. Die Anwesenden sahen mich fragend an. „Miles und ich."

Die Polizistin kratzte sich am Kopf. „Dafür müsstet ihr mindestens 18 sein. Eigentlich sogar älter. Ihr braucht Erfahrung."

Ich seufzte. „Aber wir wären gute Eltern." Miles neben mir lief ziemlich rot an und Theo kicherte.

„Und verheiratet solltet ihr auch sein...", fügte die Polizistin weiter hinzu.

Fast wäre mir ein „Das lässt sich einrichten" rausgerutscht, aber ich hielt mich zurück. Beschämt senkte ich den Kopf. „Dann wohl eher nicht."

„Könnte deine Familie sie nicht aufnehmen, Miles?" Miles reagierte gar nicht auf die Frage meiner Mutter. Wie denn auch, er sah ja zu mir. „Hallo? Wieso ignorierst du mich? Junger Mann!" Sie war ziemlich empört über sein Verhalten.

Ich seufzte und schnappte seine Wangen. Dann drehte ich ihn zu meiner Mom. „Er hört dich nicht, er ist taub, Mom", vermittelte ich.

Erschrocken schlug meine Mom sich die Hand vor den Mund. Aus ihrem Verhalten heraus konnte Miles wohl schließen, um was es ging. „Tut mir leid." Er kratzte sich unsicher am Kopf. „Haben Sie etwas gesagt?"

Sie brauchte eine Zeit, um die Sache zu verarbeiten, dann atmete sie leicht auf und schloss kurz die Augen. „Ich hab gefragt, ob deine Familie sie nicht aufnehmen könnte."

Miles fuhr sich unsicher durch die Haare und dachte kurz nach. „Meine Mutter wohnt nicht bei uns. Mein Dad ist meistens weg und meine Großmutter..." Er sah schuldbewusst auf. „Eher nicht."

„Sie ist kein Kleinkind, Mom", versuchte ich noch einmal mein Glück. Ich kümmere mich um sie. Sie wird bald 12. Das wird schon. Und Damon ist ein ganz Braver." Mit diesen Worten strich ich ihm über den Kopf und er wedelte zufrieden mit dem Schwanz und öffnete seinen Mund.

„Ja, bei dem Namen und dem Gebiss..." Mom betrachtete seine spitzen Zähne, von denen er nicht gerade wenig besaß. „Glaub ich dir das natürlich aufs Wort."

Die Polizistin erhob sich. „Es ist spät. Ich werde Mister McAbott nach Hause bringen und Kelly ins Waisenhaus."

„Nein!" Meine Mom sprang auf, als wäre sie vom Blitz getroffen worden. Dann sah sie böse zu mir. „Wir nehmen sie auf. Zumindest für eine Woche, damit sie sich an uns gewöhnt und ich sehen kann, wie sich alles entwickelt. Dann entscheide ich, wie es weitergeht."
Ich lächelte sie dankbar an und fiel dann Miles um den Hals, der mich fest an sich drückte. Die Polizistin schien auch ziemlich zufrieden.

„Dann nehm ich wohl nur MrAbott mit", meinte sie und tippte Miles auf die Schulter. Dann machte sie eine Rausgeh-Geste. Er fühlte sich wohl ein bisschen verarscht, aber er verstand und strich mir schnell noch einmal durch die Haare, bis er aufstand und mit der Polizistin durch die Tür verstand.

Ich rannte zu meiner Mom und fiel ihr überglücklich um den Hals. „Danke! Du wirst es nicht bereuen! Die beiden sind toll!"

„Mhm", meinte meine Mom etwas missmutig. Dann sah sie zu Damon, der ehrfürchtig zu ihr nach oben blickte. „Er kommt nachts nicht in meine Nähe."

Theo erhob sich ebenfalls. „Na super", seufzte er. „Jetzt hab ich zwei dämliche Schwestern." Nach einem Blick zu Damon grinste er aber auch ziemlich breit.


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