Ich starrte emotionslos in den Spiegel. Ich erkannte das Mädchen darin, das mich so blass und mit geröteten Augen anstarrte, nicht mehr. Sie war eine Fremde, die mir noch nie zuvor begegnet war.
Damon saß neben mir und winselte. Er drehte den Kopf, als er sich neben mir im Spiegel sah.
Meine langen, schwarzen Haare waren nun kinnlange hellbraune Zotteln, denn für blond hatte es nicht gereicht. In meinen Spitzen hatte ich einen rosa Dip Dye und Simon war gerade pfeifend dabei, meine Haare zu locken und mit Haarspray ein zu parfümieren.
„Du hättest Friseur werden sollen", meinte ich, während ich den Pony, den er mir geschnitten hatte betrachtete. Ich war ein vollkommen anderer Mensch. Und es gefiel mir, wäre ich nicht eine Gefangene, hätte ich mich glatt über die Veränderung gefreut.
Er pfiff fröhlich weiter und trat Damon in die Seite, der sich gequält winselnd in die nächste Ecke verzog. „Ja, aber dann dachte ich, es wäre viel vorteilhafter kriminell zu werden." Ich war mir nicht sicher, ob er das nun ernsthaft oder zum Scherz meinte. Ich konnte ihn nicht einschätzen.
Er sah immer noch top gepflegt aus und jede seiner Bewegungen schien zehn Mal überdacht, so perfekt waren sie.
„Sie stehen nicht auf kleine Mädchen", stellte ich schließlich fest, als er zurück zum Waschbecken tänzelte, um sich die Hände zu waschen. Er drehte sich zurück zu mir und legte sein Kinn auf meine Schulter.
Durch den Spiegel sahen mich seine stechend blauen Augen genau an. „Stimmt." Er lachte. „Ich steh auf kleine Jungs."
Angeekelt rückte ich meinen Kopf von ihm weg. „Erhäng dich", riet ich ihm erbost.
„Das war ein Scherz." Er rubbelte mir durch die Haare. „Ich helfe nur meinem armen, alten Onkel." Als er fand, dass meine Haare perfekt lagen, nahm er mir das Handtuch von den Schultern und zog mich hoch. „So, lass dich ansehen. Sehr gut. So wollen dich alle."
„Wieso helfen sie Hub?" Ich nahm die engen Klamotten, die er mir zuwarf in die Hand und runzelte die Stirn. „Und sowas soll ich tragen?"
„Nur fürs Foto und jetzt ziehs an." Er war sehr dominant, das musste man ihm lassen. Wahrscheinlich war er top. „Weil er alleine nichts auf die Reihe bekommt und diese Onlinesklaverei ist profitabel. Allein der Lifestream hat uns genug Bit Coins für 5 weitere Sklavinnen eingebracht. Wir sind reich."Ich warf die Klamotten in die nächste Ecke, wo leider Damon lag, der sich nun in eine andere Ecke verzog. „Ihr seid solche Untermenschen!"
Er zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon", meinte er desinteressiert und hob die Klamotten wieder an. „Nimm sie oder es wird ungemütlich."
„Ein Scheiß mach ich." Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah beleidigt zur Seite.
Er schmunzelte. „Du denkst wohl, du kannst hier machen was du willst, weil du ein kleiner Highschool-Cheerleader bist, hm?" Er ging zu Damon und zog ihn zu sich. „Da hast du dich geirrt."
Er zog ein Messer aus der Tasche und setzte an das Ohr des Hundes, der ihn nur mit großen Augen ansah und keine Ahnung hatte, was um ihn herum passierte.
„Das würden sie nicht tun", schnauzte ich erbost und mein Körper verkrampfte sich. Er würde nicht seinen eigenen Hund verkrüppeln, er wollte mich nur unter Druck setzen, da war ich mir sicher.
Ich lag falsch. Ein schneller Schnitt und er hielt das linke Ohre von dem, nun vor Schmerz aufjaulenden, Hund in der Hand. Schreiend rannte ich auf ihn zu und schubste ihn weg. Ich drückte mein T-shirt panisch gegen die Blutung, die nicht zu stoppen schien.
Ich zog mein Shirt aus und drückte es weiter darauf. Desinteressiert warf Simon mir die Sachen zu. „Jetzt zieh sie an oder der Hund ist taub. Mit tauben Hunden kennst du dich ja aus, so wie es mir aufgefallen ist."
Ich knurrte ihn erbost an. „Dafür wirst du irgendwann bezahlen, du Mistkerl."
„Jaja, aber nicht heute", meinte er teilnahmslos. „Und jetzt mach mal hinne, Prinzessin. Wir haben noch anderes zu tun."„Ab heute heißt du Amelia." Hub tippte alle Informationen für mich ein und speicherte sie zufrieden ab. Und nun war ich in Get-a-girl.net.
Vor einigen Stunden hätte ich jeden, der das vermutet hätte, ausgelacht. Wie einem das Leben mitspielen konnte. Mit glasigen Augen sah ich zu, wie auf Hubs Laptop immer mehr Anfragen für mich eingingen.
Damon lag neben mir auf dem Boden, sein Kopf auf meinem Schoß. Aus seinem Ohr tropfte nur noch ab und zu ein kleines bisschen Blut, aber er konnte es nicht verstehen, warum ihm so etwas angetan wurde. Ich strich ihm über den Kopf und seine traurigen Augen suchten die meinen. Er war genauso ein Gefangener wie Kelly und ich.
„Willst du Kelly heute Nacht schon mit in dein Zimmer nehmen, Hub?", fragte Simon beiläufig, als er nur in einem Handtuch aus dem Badezimmer kam. Als wäre es ganz normal.
Ich schluckte. Es war für die beiden ganz normal. Das waren keine Menschen, sondern kranke Monster.
„Nein, heute Nacht bleibt sie noch zur Eingewöhnung mit unserer Amelia im Keller. Und morgen werden wir Amelia los." Er grinste schmutzig.
Ich schlug die Beine übereinander und sah weg. Da spürte ich es. Mein Handy, es befand sich immer noch in meiner Hosentasche. Ich zog es langsam heraus und legte es unter meinen Unterschenkel. Ich brauchte einen sicheren Platz dafür.
Mein Blick fuhr unauffällig durch den ganzen, mit Bildschirmen gefüllten, Raum und blieb schließlich bei Damons dickem Stachelhalsband stehen. Mit einer schnellen Bewegung hatte ich mein Handy darunter geschoben.
Damon reagiert nicht einmal darauf, so fertig war er von diesem Tag und auch ich spürte, wie meine Augen langsam den Geist aufgaben und ich nur noch verschwommen sah. Ich gähnte kurz, was Simon natürlich nicht entging.
„Wir sollten sie langsam runterbringen. Mach den Lifestream an und gib ihnen Damon mit, damit sie keinen Unsinn machen", befahl er Hub und ging dann wieder zurück ins Bad.
Als Hub mich am Arm packte und fest mitzog, wehrte ich mich nicht. Ich hatte zu wenig Kraft dazu, schließlich hatte ich den ganzen Tag weder gegessen noch getrunken.
Und so saßen wir da. Zu dritt in eine Ecke gekuschelt, von der aus der Laptop uns nicht filmen konnte.
Ich würde Hub und Simon sicher nicht helfen, Geld zu verdienen. „Glaubst du nicht, dass ich an den Laptop kann, um Hilfe zu rufen?", murmelte ich Kelly zu und sie schüttelte traurig den Kopf.
„Die sind alle gleich. Die petzen das Hub und Simon sofort und dann gibt's eine saftige Strafe." Ich sah mitleidig zu Damon. Wahrscheinlich gab es sogar eine für ihn, der doch gar nichts mit allem zu tun hatte. Es wunderte mich, dass er die beiden nicht längst auseinandergerissen hatte. Ich hätte es getan. Sicherlich.
Ich grübelte kurz weiter. „Weißt du, wo wir sind?", fragte ich sie so leise ich konnte. „Ich bin auf der Autofahrt nicht wach gewesen, du aber schon."
„Wir sind noch in derselben Stadt." Mir fiel ein Stein vom Herzen, wir hatten Ravensky noch nicht verlassen. „Ich glaube, ein altes Industriegebiet."
Ich sprang auf, ich hatte eine Idee, die funktionieren musste. Wenn ich Glück hatte, hatte er uns gefunden und sah den Stream, in der Hoffnung auf Hinweise. Und die würde ich ihm jetzt liefern.
Ich stellte mich direkt vor die Kamera und holte tief Luft. Es musste einfach klappen.
„Hallo", sagte ich unsicher in die Kamera. „Ich weiß nicht, wieviele das sehen. Und was für kranke Fantasien sie über mich haben." Beim Gedanken daran, dass sich nun jemand einen runterholte, wurde mir schlecht, aber ich machte weiter. „Ich werde mich nicht ausziehen. Im Gegenteil. Ich werde ihnen eine Geschichte erzählen. Eine wahre Geschichte.
Sie sind Monster. Sie sind grausame, ekelhafte Menschen. Sie sind alle verachtenswert. Aber ich bin das auch. Warum? Das werden sie gleich erfahren."
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Gone
Misteri / ThrillerAls ihre beste Freundin Josie verschwindet, kann Alicia gar nicht anders. Sie beginnt sofort mit den Nachforschungen. Zusammen mit ihrer Freundin Savannah und einem seltsamen Jungen namens Miles stößt sie auf Geheimnisse, die sie nie erwartet hätte...