Kapitel 46

113 10 3
                                    

"Lays, sag mir doch wenigstens, wohin wir gehen."

"Nein, sonst ist das doch gar keine Überraschung mehr!" Entgegnete ich und hakte mich bei ihm ein. Die kühle Nachtbrise streifte an meinem Hals entlang und brachte einen wohltuenden Ausgleich nach Noels Erzählung. Ich war die Erste. Ich musste schon sagen, dass ich mich deswegen etwas besonders fühlte. Und als besondere Persönlichkeit musste ich für ihn auch etwas Einzigartiges machen, damit er mal alles vergessen konnte. Ich weiß, es war etwas verantwortungslos nachdem er Fieber hatte und sich übergeben musste, mit ihm nach Draußen zu gehen aber... ok, es gab keine Entschuldigung, es war verantwortungslos. Aber! Er wollte aus dem Krankenhaus raus, obwohl er noch da bleiben sollte! Also war es eigentlich nicht meine Schuld. Nach mühevollem Anziehen eines neuen Hemdes und einer, Gott sei Dank, weiteren Jacke befanden wir uns auf den einsamen Straßen. Ich wusste nicht wie spät es war, aber kaum eine Menschenseele war draußen noch zu sehen. Das machte es umso spannender. "Ich mag es nicht ins Nirgendwo geführt zu werden, vorallem wenn ich nichts sehe..." Sagte Blondie leise und trotzdem hallte seine Stimme kraftvoll durch die ruhigen Gassen. Ich schaute ihn grinsend an. "Dafür läufst du aber ziemlich zielsicher." Er hatte eigentlich Grund genug misstrauisch zu sein, ich hatte seine Augen mit einem Tuch verdeckt und er musste alleine auf meine Führungskräfte vertrauen. Zudem wusste er von meinem nichtvorhandenen Orientierungssinn. Aber diesen Weg kannte ich garantiert. Wirklich. Ihr könnt mir ruhig glauben! Nach 5 Minuten befanden wir uns bereits auf einer Landstraße und keine einzige Laterne spendete uns Licht. Oder eher mir, Noel brauchte ja keins. Zum Glück befand sich nicht eine Wolke am Himmel. "Ich rieche Kuhscheiße..." Kam es aufeinmal von Blondie.

'Romantiker'

"Neiiin, das bildest du dir nur ein. Es hümpfen gerade wunderschöne Regenbogenpegasuseinhörner umher und lassen Glitzer von sich." Sagte ich im sarkastischsten Ton, den ich je von mir gegeben hatte. Er zog scharf die Luft ein und ich schaute zu ihm hoch.  Auch wenn es komplett dunkel war konnte ich noch immer sein breites Grinsen erkennen. Sehr gut. Er musste sich so sehr darauf konzentrieren grade zu laufen und auf meine Stimme zu hören, dass er an nichts anderes denken konnte. "Dafür müsste ich meine Augenbinde abnehmen, um das zu glauben."

"Jaja, in ein paar Minuten kannst du das ganze Glitzer sehen." Antwortete ich und führte ihn weiter über die Straßen. Mittlerweile hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und ich konnte perfekt den Graben sehen, worüber wir springen mussten. ......Fuck. Ihr erkennt das Problem oder? Jap, ich war in dem Moment zu hirnverbrannt um mit einzuberechnen, dass Blondie mit verbundenen Augen über diesen scheiß Graben springen musste. "Okay ähm... Noel? Wir haben ein kleines Problem." Sagte ich zögernd, woraufhin er umso nervöser antwortete. "Waaas für ein Problem?" Ich ließ ihn los und suchte nach einer Stelle, wo der Bach am schmälsten war. Es war aufjedenfall möglich. Vielleicht schaffte er es sogar mit einem Schritt darüber zu gehen. "Also..." fing ich an und führte ihn perfekt zur Stelle. "Du musst jetzt einen groooßen Schritt machen, okay? Am besten gibst du mir deine Hand!" Ohne darauf zu warten sprang ich schon mal rüber und streckte meine Hand aus. "Was?!" Blondie fing an lautstark zu lachen. "Du weißt schon, dass ich fast doppelt so viel wiege wie du oder? Wenn ich hinfalle, fällst du mit hin!" Da hätte was dran sein können. "Egal! Tu ich schon nicht, weil du nicht hinfallen wirst." Er streckte seinen rechten Arm aus und ich griff nach seiner Hand. "Wann soll ich den groooßen Schritt machen?" Blondie kam mit kleinen Schritten näher. "Stop! Genau jetzt." Und auf mein Kommando ging er mit Leichtigkeit über den kleinen Bach. Wow. Er hätte wahrscheinlich nicht mal meine Hand gebraucht... weshalb er mich auch wieder halb auslachte. "Was war das denn? Das war ja nicht mal ein halber Schritt."

"Man, ich dachte nicht das du soo lange Beine hast!" Versuchte ich mich zu verteidigen, aber er lachte weiter. "Ich bin ein 1,80m!" So ein großer Stalker war ich jetzt auch wieder nicht, dass ich das wissen konnte... "Ach sei doch still, du kannst froh sein, dass du nicht abgerutscht bist oder sowas." Ich führte ihn, mit dem großen Mond als Anhaltspunkt, durch's Feld und wir kamen meinem Ziel immer näher... Noel wird es bestimmt gefallen.

-----------------------------------------------
Noels POV:

Erst der Graben, dann der unebene, erdige Grund unter meinen Füßen... es war nicht schwer zu erraten, dass wir uns auf einem frisch gepflügten Feld befanden. Aber was hatte Lays hier vor? Ich setzte alle meine Sinne ein, um zu erkennen, wo genau wir waren oder was sie machte. Wasser hörte ich schon mal nicht, also gab es hier keinen Fluss oder See. Das Einzige was ich wahrnahm, waren die Grillen die unaufhörlich zirpten, das knirschende Stapfen in der Erde und Lays kalte Hand. Ob sie überhaupt gemerkt hatte, dass ich sie noch hielt? Sie fühlte sich so klein und zerbrechlich an. Ich traute mich kaum fester zuzudrücken, aus Angst ihre Hand zu zerquetschen. Sie war schon eine Person für sich. Wir hatten uns vor knapp 3 Monatem zum ersten Mal gesehen, wovon wir uns nicht mal 2 Monate richtig kannten. Trotzdem vertraute sie mir und ich ihr... seit wann ließ ich so einen Bund zu? Ich durfte sie aufkeinenfall zu sehr in mein Leben einbeziehen. "Du bist so still, hast du etwa Angst?" Ihre zarte Stimme holte mich wieder aus meinen Gedanken und ich musste automatisch lächeln. Sie gab mir noch immer die perfekten Vorgaben. Mit kleinen Schritten lief Lays vor mir und ich konnte sie ohne Probleme rückwärts in meine Arme ziehen. Die Schmerztabletten machten es um einiges einfacher. Ein kurzer Schrei entfloh ihr und sie lehnte sich mit dem Rücken an meine Brust. "Ich glaube eher, dass du Angst haben solltest. Du kennst mich erst seit kurzem, vielleicht bin ich ja auch ein Serienkiller." Flüsterte ich ihr ins Ohr, woraufhin sie nur abschätzend lachte. "Dann hättest du mich schon getötet, als ich bei dir geschlafen habe." Da hatte sie nicht ganz unrecht, doch so leicht gab ich nicht nach. "Und was wenn ich einer von diesen Fuckboys wäre und ich dich nur vernaschen möchte?" Ohne auch nur ein Spalt sehen zu können, biss ich ihr leicht ins Ohr. Von ihren Haaren aus stieg ihr natürlicher Duft in meine Nase. Ich merkte sofort wie sie sich anspannte und der Puls sich unter meiner Hand beschleunigte.

'Shit, bin ich zu weit gegangen?'

Ich wollte mich gerade loslösen, da spürte ich einen harten Schlag in meine Magengrube. "Fu-"

"Tjaha, dann würde ich genau das machen." Verdammt... hatte sie einen guten Schlag drauf... ich konnte mir gut vorstellen, wie sie gerade triumphierend grinste. "Ok ok, du hast gewonnen. Führe mich weiter oh furchtlose Layla." Sagte ich verbeugend und streckte meine Hand aus. Sofort griff sie nach ihr und ich wurde weitergeführt. "Gut so." Hörte ich es selbstsicher von ihr und nach nicht mal einer Minute wurde ich wieder losgelassen. Wenn man nichts sehen konnte, war es echt schwer die Geräusche, Gegenständen zuzuordnen. Erst knisterte etwas, dann ein Rascheln... machte sie da irgendwas vor meinen Füßen?? "Okay..." Sagte Lays leise und packte mich wieder am Arm um zwei Schritte weiter zu laufen. Spürte ich da ein Decke unter meinen Sohlen? "Gut, leg dich hin." Forderte sie mich auf und drückte mich sanft zu Boden, bis ich schließlich auf etwas weichem lag. Definitiv eine Decke. Unter meinen Fingern konnte ich wunderbar den Stoff fühlen. Ich spürte wie sie sich langsam neben mich legte und am Tuch um meine Augen fummelte. "Soll das jetzt eine Verführung im Freien werden? Dann bist du ja hier das Fuckgirl." Sagte ich grinsend. Ich hörte wie sie an meiner Seite mit ihrer Zunge schnalzte und kicherte. "Ach sei doch still." Sie nahm das Tuch weg und endlich wurde aus dem leeren Schwarz ein Sternenhimmel, der sich über mich erstreckte. Hunderte von kleinen Lichtern blitzten auf und ich öffnete vor Erstaunen meinen Mund. "Woah..."

"Genau das habe ich auch gedacht, als mein Bruder mich zum ersten Mal hier her geführt hat. Schön, nicht?"

"Das kannst du laut sagen." Schade nur, dass der Himmel nicht ganz zu sehen war. In Städten konnte man nicht mal die Hälfte davon sehen, was er eigentlich zu bieten hatte. Doch das hier war es aufjedenfall Wert. Layla wollte mich also tatsächlich ablenken... ich muss sagen, das war ihr gelungen. Auf dem kompletten Weg hierher kam es mir nicht mal in den Sinn, an etwas aus meiner Vergangenheit zu denken. So schön der Himmel auch war, löste ich meinen Blick von ihm und schaute zur Seite. Lays sah genauso fasziniert von den Sternen aus, wie ich es wahrscheinlich gerade eben getan hatte. Ich konnte sie nicht gut sehen aber der Mond spendete uns ein wenig Licht. Sie war die Erste. Vor gerade mal einer Woche war ich noch verzweifelt, wie ich meinen Bruder kriegen konnte und ließ nicht zu, dass  mich etwas oder jemand daran hinderte. Und dann kam sie einfach. Sie brachte mich dazu eine Nacht im Krankenhaus zu schlafen und ich erzählte ihr auch noch ohne weiteres von meiner Familie. Warum sie mich so manipulieren konnte? Keine Ahnung. Vielleicht erinnerte sie mich doch an meine naive Schwester. Irgendwas war an ihr, dass mich so faszinierte. Doch ich wusste noch nicht was. Eins war mir aber klar:

Ich durfte diesen hellen Stern, nie aus meinen Augen verlieren.

It's complicated | #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt