Nur ein Schritt

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"Wie heißt das Mädchen auf den Bildern?" fragte ich leise und betrat vorsichtig das Kaminzimmer. Ich wusste nicht, wie Mister Norton reagieren würde und war darauf gefasst, die Flucht ergreifen zu müssen.

"Katleen." antwortete er nüchtern. Mein Gegenüber stand am Kamin und lehnte sich mit einem Arm am Kaminsims ab. Er schwenkte wie so oft ein Glas Wein. Unser Streit war bereits vier Tage her, ich hatte bis zu diesem Abend keinen Mut gehabt ihm gegenüber zu treten. Ich war verletzt, traurig und aus Trauer wurde Wut, Hass und schließlich Mitleid. Ich musste zugeben meine Art und Weise wie ich ihn verletzen wollte war sicherlich nicht die feine englische Art gewesen aber er hatte es doch verdient. Er hatte mich hierher gebracht! Trotz dieses Wissens siegte das Mitleid und somit das Gefühl einen Schritt auf ihn zuzugehen zu müssen. Er hatte mich schließlich in Ruhe gelassen und mir Zeit gegeben über alles nachzudenken. Das Licht am Horizont, bald hier weg zu kommen, zu 100%, ließ eine Gelassenheit auf mich wirken, die es mir mittlerweile erlaubte etwas lockerer zu werden und wer wusste schon, ob ich mich nicht vielleicht doch die letzten Tage meines Aufenthaltes mit Norton "anfreunden" konnte.

Ich würde mir selber erlauben ihn kennen zu lernen um nicht total traumatisiert aus dieser ganzen Geschichte herauszukommen. 

"Katleen? War sie ein Mädchen, das auch hier lebte?" fragte ich weiter und tat einen Schritt in seine Richtung. Er nickte und sah nun auf.

"Ja das war sie wohl!" Ich vernahm so etwas wie Schmerz ins seiner Stimme, der mein Mitgefühl noch ein Stück wachsen ließ. Warum tat er mir leid? Ich dachte an die Bilder, ich hatte sie allesamt einfach zerstört. Vielleicht hatte er gar nichts anderes von ihr als diese Gemälde. Ich schluckte und faltete meine Hände vor meinem Schritt während ich vor ihm stehen blieb.

"Hast du dich beruhigt?" fragte er nun und nahm einen Schluck.
"Ich denke wir haben beide Fehler gemacht, deine sind sicherlich größer als meine... aber für die Fehler, die ich begangen habe möchte ich mich aufrichtig entschuldigen." fing ich an und blickte ihn in seine Augen. Er sollte sehen, dass ich es ernst meinte, denn das tat ich aus irgendeinem Grund.

Erst jetzt drehte er sich komplett zu mir und sah mich eindringlich an.

"Auch ich entschuldige mich für die kleine Horrorvorstellung im Kinosaal." gestand er mir und stellte das Glas weg. Horrorvorstellung war kein Ausdruck für das was er mit angetan hatte. Ich ermahnte mich selber, keinen Hass, keine Wut, gib ihm eine Chance.

"Woher hattest du die Filme?" wollte ich schließlich wissen. Alleine die Gedanken an diese Bilder machten mich traurig.
"Ich hatte sie besorgt während du im Krankenhaus lagst." antwortete er ehrlich.
"Wusstest du, dass du mir das antun musst?" wollte ich nun wissen und spürte wie schwer es mir fiel die Wut nicht Oberhand gewinnen zu lassen. Warum sorgte er dafür, dass ich meine guten Vorsätze über Boot warf?!

"Emily... lassen wir das." Er kam nun auf mich zu ich blieb stehen und fixierte weiter seinen Blick, der auf mir lag. Er wollte keinen Streit, dass war mir ab jetzt klar.

"Komm wir tanzen." er streckte mir seine Hand entgegen und ich verstand nicht ganz.
"Tanzen?" fragte ich verwundert und hörte keine Musik. Doch das änderte sich innerhalb weniger Sekunden. Plötzlich ertönten Töne eines Klaviers. Ich sah mich um, doch hier stand kein Klavier.
"Also?" fragte er nochmal nach. Ich nickte.
"Ich kann aber nicht tanzen, das weißt du doch!"
"Ich weiß!" Ich legte meine Hand in seine und er zog mich an sich heran. Ich legte eine Hand auf seine Schulter und er eine an meine Taille. Die Musik war wunderschön und er führte mich wie ein echter Tänzer durch den Raum. Es tat gut, aus irgendeinem Grund war es gar nicht so schlimm wie ich dachte. Ich musste lächeln.

"Gefällt es dir"? fragte er und bemerkte meine unterdrückte Freude.
"Irgendwie schon!" gestand ich und senkte den Blick.

"Du bist hier nicht gefangen Emily du kannst tun und lassen was du willst innerhalb dieser Mauern bist du ein freier Mensch... sag mir wann du jemals so frei warst wie hier?" fing er an und drehte mich mit sich. Ich dachte über seine Worte nach und wusste genau worauf er hinaus wollte.

"Wie ich bereits erklärt habe... hast du aber entschieden, dass ich nur hier frei sein darf!" warf ich ein und sah auf.
"Was macht das für ein Unterscheid dort draußen entscheiden andere, ob du dich frei bewegen darfst oder nicht. Deine Lehrer, die Polizei, deine Geschwister, deine Eltern... alle!" Er hatte nicht Unrecht mit dem Gesprochenen und ich war mir sicher er glaubte wirklich, dass es nicht so schlimm sein konnte ein Gefangener zu sein.

"Ich vermisse meine Familie... wenn sie hier wäre... wenn meine Freund hier wären." flüsterte ich und senkte meinen Blick wieder.

Er blieb stehen und legte eine Hand unter mein Kinn, das er leicht anhob.

"Ich werde dir jeden Wunsch erfüllen Emily... jeden außer diesen!" Warum wirkten seine Augen so mitfühlend warum hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass er mich nicht gerne hier festhielt?!

"Warum bin ich hier?" hauchte ich und versucht mehr in seinen wunderschönen Augen zu lesen.

"Das wirst du noch herausfinden...!" Er beugte sich vor ohne weiter ein Wort zu verlieren. Sein Gesicht kam meinen immer näher, mein Herz klopfte. Tausend Gedanken schossen durch meinen Kopf.

Was hatte er vor? Würde er mich küssen wollen? Wollte ich das? Nein oder doch?

Bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, spürte ich seine sanften Lippen auf meinen. Ich weitete meine Augen. Überrumpelt von der Situation reagierte ich nicht und ließ es zu. Ich ließ zu, dass seine Lippen, die nach Rotwein schmeckten, meine liebkosten als wären wir ein verliebtes Paar. Er trat einen Schritt nach vorne und umklammerte meine Taille mit seinen Händen. Ich legte meine Hände auf seine Brust spürte sein Herz wie es schneller schlug  und schloss die Augen. Das tat unerwartet gut. Er drang mit seiner Zunge in meinen Mund ein und bannte sich so einen Weg in meinen privaten Raum.

Er überschritt die Grenze, die ihn so unnahbar wirken ließ und schien sich öffnen zu wollen. Ich ließ das alles zu und erst als er sich löste versuchte ich meinen Verstand wieder ans arbeiten zu bekommen.

"Ich... ich muss... ich muss..." stammelte ich vor mir her sah in sein perfektes Gesicht und löste mich schließlich viel zu hastig seinem Griff. Ich drehte mich um und lief zur Türe, rannte den Flur entlang und erst als ich die Treppen in die obere Etage erklommen hatte traute ich mich stehen zu bleiben.

Meine Schritte wurden langsamer und ich fuhr mit den Fingern an meine Lippen. Was sollte das?

Was auch immer er damit bezwecken wollte.
Eine Antwort auf die Frage, warum ich wirklich hier war, war das dennoch nicht.

Sein Wort - Mein Gesetz (slow update / In der Überarbeitung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt