Die Retourkutsche

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Meine Hand schwebte nur wenige Millimeter von der Tür entfernt in der Luft. Ich zögerte obwohl mir bewusst war, dass dieser Besuch wichtig war. Er war wichtig für Sam, für mich und meine Zukunft. Ich ließ meine Handknöchel gegen das Holz klopfen. Ein etwas abwesendes Herein öffnete mir den Zugang. Ich betrat den Raum, der wieder nach Rosmarin roch. Auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch saß Marcus und hielt eine Patientenakte vor sich. Er saß zurückgelehnt sein linker Knöchel auf dem rechten Oberschenkel platziert und war in seinen Schriftstücken vertieft.
„Marcus?" fing ich leise an um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen und ließ die Türe hinter mir ins Schloss fallen.
Er sah nicht auf, stattdessen deutete er mir mit einer Handbewegung an näher zu kommen und mich auf den Stuhl ihm gegenüber zu setzen. Ich kam der stummen Anweisung nach und nahm Platz. Nervosität stieg in mir auf.
„Ich gebe euch hier alles was ihr braucht. Ihr könnt euch frei bewegen... ganz anders wie die anderen Patienten. Ihr bekommt Klamotten, habt einen Fernsehen und könnt feine Köstlichkeiten essen. Ist das alles verkehrt?" erst jetzt hob er sein Haupt und sah mich an. Ich schüttelte den Kopf und faltete die Hände auf meinen Beinen.
„Genau das ist das Problem! Ich verstehe einfach nicht warum es Samantha so schwer fällt meinen Regeln Folge zu leisten dabei gibt es so gut wie keine!" Er legte die Akte weg und ich konnte den Namen erhaschen. Das war die Akte von Sam. Schnell sah ich wieder auf und fixierte seine Augen. Seine Pupillen waren zu groß, er hatte sich wohl an den Drogen bedient.
„Sie ist temperamentvoll!" versuchte ich ihr Verhalten zu erklären.
„Das ist sie...!" pflichtete er mir bei, dabei entwich dem Mann mir gegenüber ein Seufzer.
„Ich wollte mich entschuldigen... also wegen dem Tritt!" fing ich vorsichtig an.
„Ah Emily. Deine Reaktion ist nachvollziehbar du bist nicht lang genug hier um zu begreifen was richtig und falsch ist... du kennst die Konsequenzen nicht! Auf dich bin ich nicht sauer!" Ein Stein fiel mir vom Herzen. „Wo ist Samantha?" fragte er direkt weiter. Da war er wieder der Kloss.
„Sie ist auf ihrem Zimmer!" antwortete ich schnell und lächelte. „Ich bin aber noch wegen etwas anderem hier." Fuhr ich sofort fort um nicht weitere Informationen preisgeben zu müssen.
„Das wäre?" fragte er interessiert und richtete sich etwas auf.
„Wir haben uns doch über meine Haare unterhalten. Ich finde ein neuer Haarschnitt wäre super...!" Ich erkannte die aufblühende Freude über meine Aussage.
„Wunderbar Emily." Marcus erhob sich von seinem Stuhl und kam um dem Schreibtisch herum. Er humpelte, mein Tritt war wohl doch kräftiger gewesen als gedacht.
Er lehnte sich vor mir an die Schreibtischkante und sah auf mich herab.
„Die neue Frisur wird dir fabelhaft stehen." Er machte sich die Welt, wie sie ihm gefällt. Ging es mir durch den Sinn.
„Gut, ich würde sagen direkt nach dem Telefonat oder was meinst du?" er nickte in Gedanken versunken. Aus dem Nicken wurde ein Kopfschütteln. Obwohl meine Augen sahen wie sich sein Arm nach hinten bewegte schien mein Verstand die Reizung meiner Sinne nicht zu verarbeiten. Bevor ich auch nur ansatzweise reagieren konnte, hatte er sich meinen Zopf geschnappte und zog meinen Kopf unsanft zu sich. Ich löste meine gefalteten Hände und folgte dem Sog.
„Nein wir machen es vorher und zwar jetzt!" Ich hörte nur das Schneiden einer großen Schere und konnte umgehend zusehen wie das Haar auf dem Boden landete und sich verteilte. Er ließ mich los und ich richtete mich sofort auf. Mit ungläubigen Gesichtsausdruck sah ich den Mann, der mir gerade mir nichts dir nichts die Haare abgeschnitten hatte, an. Mir blieben die Worte im Halse stecken. Er legte die silberne Schere auf das Holz und sah mich abwartend an.
„Warum?" kam es fassungslos über meine Lippen.
„Ich dachte ich mache es dir ein wenig leichter und so willst du sicher nicht mehr rumlaufen!" Wütend schnappte ich mir die Schale aus Silber vom Schreibtisch. Die Kekse, die zuvor auf der Dekoration lagen flogen umher. Ungläubig begutachtet ich mein verzerrtes Spiegelbild. Es war der Horror.
„Wir werden es retten können!" Ich konnte nicht wegsehen, so geschockt war ich. Was war mit diesem Mann bloß los? War das eine Art der Racheaktion um mir den Tritt gegen sein Knie heimzuzahlen?! Mit einem kontrollierten Ein und Ausatmen versuchte ich mich selber zu beruhigen. Marcus hingegen, ging wieder zu seinem Platz schnappte sich das Telefon wählte eine Tastenkombination und telefonierte mit irgendjemanden. Das hier war geplant! Es war nicht zu überhören, dass die Person am anderen Ende auf den Anruf gewartete hatte.
„Sie wird 10 Minuten brauchen was machen wir in der Zeit?" fragte er und musterte mich, als ich die Schale wieder runternahm und verzweifelt in dem Stuhl versank.
Was war los? Er wirkte anders wie sonst? Unberechenbar!
„Wir könnten Schweigen...!" murmelte ich genervt.
„Wir könnten uns aber auch darüber unterhalten, was du deinen Eltern heute sagen möchtest!" warf er, meinen Vorschlag vollkommend ignorierend, in den Raum. Ich seufzte etwas gereizt.
„Ich habe darüber viel nachgedacht und bin zu keinem Entschluss gekommen." Gestand ich und ging mir durch mein Haar. Es war ein seltsames Gefühl als meine Haare früher als gewohnt endeten und meine Finger durch die Luft fuhren anstatt durch meine Strähnen.
„Das solltest du aber langsam." Er zeigte auf die Standuhr die 11:00 Uhr zeigte.
„Noch sieben Stunden und es ist soweit. Dann wirst du endlich die Stimmen von Mama und Papa hören!" Mein Herz blieb beinahe stehen, nachdem ich die Uhrzeit meiner ersehnten Erlösung mitgeteilt bekam. Seine abfällige Art, die er nicht zu verbergen versuchte, ignorierte ich in diesem Moment gekonnt.
„Emily, das ist der Beginn deines neuen Lebens und ich freue mich ein Teil davon zu sein!" ein aufrichtiges Lächeln huschte über seine Lippen. Ich glaubte diesen Worten auch wenn ich keine Gewissheit hatte ob ich mich auf sie verlassen konnte. Vermutlich wollte ich mich darauf verlassen können.
„Das mit den Haaren war doch nur die Retourkutsche für meinen Tritt oder?" grinste ich nun und hob ein paar Strähnen an um ihm zu zeigen was er angerichtet hatte.
Er versuchte es doch schaffte es nicht, so erschien auch sein Grinsen. Mit Worten bestätigte er mir diese Annahme nicht, das war auch nicht notwendig.
Es klopfte als ich mich gerade wieder aufrecht hingesetzt hatte.
„Herein!" rief Marcus und sah zur Türe. Eine schlanke, junge Frau trat herein und mit ihr ein kleiner Koffer, indem sich wohl die benötigten Utensilien befanden um die Katastrophe auf meinem Kopf in etwas Gutes zu verwandeln.
„Hier bin ich."
„Sehr gut Aurelia, ich bitte dich das Missgeschick meinerseits zu korrigieren!"
Die Schwarzhaarige ging um mich herum und sah mich musternd an.
„Das sollten wir hinbekommen!"

Sein Wort - Mein Gesetz (slow update / In der Überarbeitung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt