Das Ende

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Das Dröhnen in meinem Schädel hörte nicht auf. Es betäubte meinen Verstand, was nicht zuletzt der nervigen Melodie zu verdanken war, die mich zu verspotten schien. Hell und gut gelaunt, beschallte sie mich bereits seit einer gefühlten Ewigkeit. Wie lange war ich weggetreten gewesen? Hatte mich Marcus tatsächlich mit einem gekonnten Schlag ins Gesicht außer Gefecht gesetzt? Nur mit Mühe glitt ich mit der Hand zu meiner Stirn, die ganz klar eine Vergrößerung meiner vorherigen Beule aufwies und schmerzte.
Außer Kräften ließ ich meinen Arm sinken.
Wo war ich nun gelandet? Ich versuchte meine müden Muskeln zu bewegen und spürte einen Widerstand meines eigenen Körpers. Er war nach wie vor wie gelähmt und schien nur langsam aus dem Schlaf zu erwachen. Es roch penetrant nach Urin und Desinfektionsmittel. Mein Mund war trocken wie die Wüste und meine Kehle schmerzte aufgrund des Feuchtigkeitsmangels. Ich versuchte die Situation zu überblicken und begriff, dass ich an einer kalten Wand lehnte und dass der Uringeruch von mir kam.
Wie lange saß ich hier schon?
Meine Schultern schmerzten, meine Arme fühlten sich taub an. So laut die Musik auch war, die Erinnerungen bohrten sich durch das Dröhnen an die Oberfläche meines Bewusstseins. „Thomas..." hauchte ich in die alles einnehmende Schwärze. Panisch versuchte ich mit meinen Fingern Halt an der glatten Oberfläche der Wand zu finden doch den fand ich nicht. Sobald ich auch nur wenige Millimeter vom Boden kam saß ich auch schon wieder in meinen eigenen nassen Körperausscheidungen. Bis auf die Melodie nahm ich kaum etwas anderes wahr. War das der Raum von dem Sam erzählt hatte? „Sam.." murmelte ich mit zittriger Stimme und spürte wieder die Übelkeit. Wie konnten zwei Menschen in so kurzer Zeit sterben? Ich biss mir auf die Lippe und war ratlos. Was würde passieren, was hatte er mit den Worten gemeint, dass er heute Nacht noch beginnen wird. War es noch dieselbe Nacht?
War es überhaupt Nacht? Es war kein Fenster zu erkennen nicht mal ein Lichtspalt, der eine Tür andeutete. Vielleicht ließ er mich jetzt hier sterben. Wäre das die schlimmste Vorstellung?

Weder Sam noch Thomas konnte ich helfen und Marcus würde davonkommen, weil niemand anzweifeln würde, das Sam Selbstmord begangen hatte. Er würde alles so biegen, dass niemand ihn verdächtigte und mir würde er sicherlich nicht die Möglichkeit geben etwas dazu zu sagen. Ich zog die Luft scharf ein und schrie so laut ich konnte: „Hilfe!" und schaffte es sogar in die Hocke zu kommen. Ich griff über mir und spürte etwas aus Metall. Ich zog mich daran hoch und stand auf wackligen Beinen in mitten der vorherrschenden Dunkelheit. „Hilfe!" schrie ich erneut und wusste selbst diese quälende Musik konnte ich nicht übertönen.
„Mach diese scheiss Musik aus!" schrie ich voller Verzweiflung und Wut. Meine Augen schlossen sich so reflexartig wie meine Arme vor mein Gesicht schnellten. Durch den fehlenden Halt rutschte ich auf der Flüssigkeit unter mir aus und landete unsanft auf dem Hintern. Die Musik war binnen Millisekunden verstummt und das Licht wurde dunkler. Ich öffnete vorsichtig meine geschundenen Augen und erblickte erst schemenhaft dann aber ganz klar einen Fernseher an der Wand.
Ich konnte mich auf nichts anders mehr konzentrieren als auf das was mir offenbart wurde. Nicholas mit einem Glas in der Hand. Jemand schien ihn aufzunehmen und mir die Bilder zu zeigen. Nicht Jemand, das konnte nur Marcus sein. War er noch immer nicht fertig mit dem Quälen meiner Person?

Ich schluckte und fühlte mich elend. Wie konnte alleine das Antlitz dieses Menschen in mir dieses Gefühl der Sehnsucht erwecken? War er doch schuld an dem allen hier! Hätte er mich nicht entführt wäre ich heute zuhause bei meiner Familie, hätte mit Ihnen Silvester gefeiert, meine Bücher gelesen und wäre mit Adam zum Winterball gegangen. Stattdessen saß ich hier in meiner eignen Pisse und hatte keine Ahnung was nun passieren würde. Ich schaffte es mit größter Mühe den Blick von dem Mann abzuwenden, der mein Leben zerstört hatte. Doch der Hass war nicht das primäre Gefühl, das meinen Körper einnahm. Vielmehr war es der Wunsch ihn bei mir zu haben.
„Nicholas!" schrie ich ohne darüber bewusst entschieden zu haben. Wieder griff ich über mir nach dem Metall und rappelte mich auf. Ich ließ meine Augen den Raum scannen und stellte fest ich saß in einer Dusche, die großzügig geschnitten war. Marcus hatte mich im Bad eingesperrt. Ein riesiges Bad. Das verunsicherte mich mehr als der Glaube zuvor, er hätte mich in einen Raum gesetzt um mich sterben zu lassen. Mir wurde klar, dass hier war noch nicht das Ende und das machte mir am meisten Sorgen. Meine Beine wollten einfach nicht. An eine Flucht war in diesem Zustand nicht zu denken. Zumindest schaffte ich es mich nicht wieder fallen zu lassen, sondern glitt an den Fliesen herab auf den Grund, dabei legte ich den Hahn um. Warmes Wasser floss über meinen Körper. Ich merkte wie das Wasser meine Klamotten durchnässte und legte den Kopf in den Nacken. Den Mund weitgeöffnet fing ich die erlösende Flüssigkeit auf und benetzte meine trockene Kehle. Das tat gut. Viel zu gut. Ich richtet mein Gesicht wieder zu dem Fernseher vor mir und beobachtete die Gesichtsmimik meiner letzten Hoffnung. Er hatte keine Ahnung, dass ich hier saß und ihn zusah wie er dort stand und sich unterhielt. Schwerelos. Ich war mir sicher, er dachte nicht mehr an mich und hatte sich sicherlich bereits eine andere gesucht. Das würde zumindest zu ihm passen. Als Marcus auftauchte durchströmte mich ein Gefühl der plötzlichen Kraft.

Wenn er dort war konnte er nicht hier sein.

Ich beendete die Duschaktion und strich mir das nasse Haare aus dem Gesicht. Ich hatte eine Chance, die musste ich nutzen. Meine Glieder waren nach wie vor träge aber das durfte mich nicht davon abhalten hier abzuhauen. Ich legte mich auf den Bauch und zog mich vorwärts durch das Wasser, das wie Schmiermittel fungierte. Dadurch war das gar nicht so schwer. Ich kam aus der Dusche und schaffte es mich an dem Waschbecken hochzuziehen. Ich warf noch einen Blick auf dem Flimmerkasten und warf mich mehr schlecht als recht auf die Türe zu. Ich ergriff die Türklinke und fiel aus dem Bad ins angrenzende Schlafzimmer. Es war das Schlafzimmer von Marcus. Die Bilder von Thomas drängten sich hoch und ich hatte Mühe, diese zu unterdrücken. Ich musste, egal wie schwer es werden würde, einen kühlen Kopf bewahren. Ich musste mich zusammenreißen. Ich stolperte zur nächsten Türe und auch die war nicht verschlossen. Mit wackligen Beinen wankte ich von Wand zur Wand den schmalen Flur entlang. Hinter mir eine feuchte Spur. Ich musste zu Nicholas, er musste mich hier rausholen. Bei diesem Gedanken blieb ich stehen und hielt inne. Ich sah auf meine nassen Schuhe und schüttelte den Kopf, wie in Trance.
„Nein..." murmelte ich vor mir her. Damit rechnete Marcus sicherlich. Ich erhob meinen Kopf und sah über meine Schulter zu der geöffneten Türe. Plötzlich erschloss sich mir, warum die „Flucht" so einfach verlief. Er hatte damit gerechnet. Er rechnete auch damit, dass ich zu Nicholas wollte. Deswegen auch die Liveübertragung, deswegen sein Auftritt in der wohl kuriosesten Fernsehshow der Welt. Marcus glaubte ich sei abhängig und mein Gehirn würde nur diesen einen Ausweg betrachten aber da irrte er sich. Ganz Unrecht hatte er nicht mein erster Gedanke war schließlich auch die Flucht zu Nicholas aber der zweite viel vernünftigere Gedanke löschte den Plan aus meinen Kopf. Ich durfte mich nicht auf Nicholas verlassen, ich durfte nur auf mich vertrauen. So drehte ich den anfänglichen, vermeintlich richtigen Weg den Rücken zu. Ich gestand mir ein, dass diese Entscheidung schmerzte aber all das hier musste ein Ende haben.

Es musste heute Nacht enden.

Sein Wort - Mein Gesetz (slow update / In der Überarbeitung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt