Kurz vor dem Ziel

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Ganz sicher war ich nicht, was ich von meiner neuen Friseur halten sollte. Mein Haar ging nun knapp bis zur den Schultern und wellte sich. Ich glitt mir durch die vorderen Strähne und blieb an den Spitzen hängen.
„Ich sagte doch, ein hübsches Gesicht kann nichts entstellen." Lächelte Leah, die hinter mir aufgetaucht war. Ich fixierte ihre Augen durch den Spiegel und erwiderte das Lächeln.
„So schlimm ist es wirklich nicht." Gab ich zu und drehte mich zu ihr um.
„Jetzt hat er dich wie er dich haben will." Fuhr die Schwarzhaarige fort.
„Wenn das alles ist soll es mir Recht sein." Erwiderte ich und ging an ihr vorbei zu meinem Bett.
„Bist du aufgeregt?" fragte mein Gast, der sich mit mir gedreht hatte.
„Hast du deine Eltern schon anrufen dürfen?" fragte ich und ging vorerst nicht auf ihre Frage ein.
„Ja." Sagte sie schnell.
„Kommen sie vorbei und besuchen sie dich?"
„Nein, es ist noch nicht an der Zeit... ich wollte noch nicht!" mit einem nun etwas betrübten Gesichtsausdruck setzte sich Leah auf einen Stuhl, der am Schreibtisch stand.
„Warum nicht?"
„Ich würde ihre Abreise ohne mich wahrscheinlich nicht ertragen." Ein trauriges Lächeln schlich sich über ihre Lippen.
„Ich bin mega aufgeregt!" murmelte ich und blickte gen Boden. „Ich kann es im Prinzip noch gar nicht glauben... nicht mehr als 4 Stunden und ich höre meine Eltern, wenn sie dann abheben."
„Das glaube ich dir sofort. Ich weiß noch wie es mir erging. Ich konnte nichts essen und war total durch den Wind! Es war so unfassbar surreal die Stimmen zu hören. Ich habe geweint wie ein kleines Mädchen." Erzählte die wunderschöne, junge Frau mir gegenüber und ich erkannte die Trauer in ihrer Stimme. Die Erinnerungen schienen ihr weh zu tun und doch teilte sie diese mit mir.
„Na Ladies!" unterbrach Sam uns, indem sie unangemeldet im Türrahmen stand und uns ansah. Das Auge sah nach wie vor nicht gut aus.
„Warst du bei Isabell?" Sie nickte.
„Nur eine Prellung!"
Leah stand auf und ging direkt zu ihr rüber und umarmte sie. Sam erwiderte die Geste und legte ihre Arme um die Taille der Älteren.
Auch wenn beide versuchten es nicht zu zeigen und das die ganze Zeit schon, erkannte ich was es hieß sich in der Grauzone aufzuhalten. Sie mochten frei sein, frei in diesen Wänden, doch dafür zahlten sie einen hohen Preis. Sie verkauften sich selber. Es war bitter, aber auch ich war ein Teil davon geworden. Ich verkaufte mich für die Freiheit und hoffte so sehr, sie würde bald kommen. Sobald ich auch nur ein Wort sagen konnte würde ich meinen Eltern alles erzählen und sie um Hilfe bitten. Sam hatte mir in einer ruhigen Minute die Adresse genannt, diese würde ich rausbrüllen und mich befreien lassen. Marcus war vielleicht nett zu mir aber wie lange würde es dauern bis er auch mir gegenüber die Hand erhob und ich so aussah wie die Blondine, die immer noch in Leahs Umarmung gefangen war.
„Bist du Marcus nochmal über den Weg gelaufen?" wollte ich wissen.
„Nein aber du wie ich sehe!" entgegnete sie und deutete auf meine neue Frisur.
„Gefällt es dir?" grinste ich. Sam, die sich nun aus Leahs Armen befreite kam auf mich zu und legte den Kopf leicht schief.
„Ja tatsächlich find ich es echt cool." Sie nahm neben mir auf dem Bett Platz und kreuzte die Knöchel.
„Ich glaube Marie hat mich gesehen!" fing Sam leise an und faltete ihre Hände auf den Knien.
„Wo hat sie dich gesehen?" fragte ich nach und lehnte mich vor um ihr gesenktes Gesicht zu sehen.
„Vor dem Zimmer von Thomas...!"
„Vielleicht ist sie dumm genug und hat nicht gepeilt, dass ich auch daraus kam!" versuchte Sam sich selber Mut zu zusprechen und hob den Kopf. Ich erkannte sie, ich erkannte die Sorge in ihrem Blick, die sich auch in ihrer Stimme niedergeschlagen hatte.
„Selbst wenn sie was gesehen hat sie wird doch nicht petzen oder?" mutmaßte ich und glaubte nicht daran, dass Marie so boshaft war. Selbst ihr müsste klar sein, was das für Sam heißen würde.
„Wenn sie das bereits getan hätte, würde ich hier nicht mehr sitzen... die Hoffnung besteht, dass sie ihren Rand hält und das Gesehene für sich behält!" bestätigte Sam meine Annahme.
„Es wird Zeit, dass ich abhaue bevor noch irgendetwas dazwischen kommt!" seufzte sie und sah zu mir und dann zu Leah. Die Schwarzhaarige, die an meiner Kommode lehnte nickte.
„Ich habe ein gutes Gefühl!" lächelte sie aufmunternd und kam zu uns herüber. Sie nahm vor uns auf dem Boden Platz und legte ihre Hände auf die von der Blondine.
„Ich werde euch vermissen?" murmelte Sam plötzlich melancholisch und entließ danach einen tiefen Seufzer des Bedauerns.
„Willst du das wirklich durchziehen?" fragte Leah um sicher zu gehen, dass daran kein Zweifel mehr bestand.
„Na sicher." Sam drehte ihr Gesicht zu uns.
„Ich habe es euch beide angeboten ihr könnte mitkommen!"
„Wie gerne würde ich aber... ich kann nicht." Antwortete die Schwarzhaarige wieder betrübt und nahm links von mir Platz.
„Ah Schwachsinn!"
„Wer passt sonst auf Emily auf?" lächelte sie und legte einen Arm um meine Schulter.
„Warten wir es ab, vielleicht will unsere kleine ja doch noch die Flucht ergreifen! Sie wird sicherlich warten bis ihre Eltern irgendwann hier auftauchen dürfen!"
„Ich werde ihnen sagen wo ich bin!" offenbarte ich meinen einfachen aber effektiven Plan.
„Find ich gut!" bekräftigte mich Sam.
„Marcus wird dich umbringen." Seufzte Leah.
„Ja ist doch super, dann kannst du wenigstens mit abhauen." Grinste Sam, während ich ihr einen Klaps auf die Stirn gab.
„Vielen herzlichen Dank."
„Ein wenig Schwund ist immer!" grinste sie weiter vor sich her. Sie versuchte cool und entspannt zu wirken doch das war nur eine Fassade, die mich nicht täuschen konnte.

Die Erfahrung hatte mir gezeigt, dass alleine der Gedanke an die bevorstehende Flucht kaum auszuhalten war.
Nervös zupfte ich an einem Kosmetiktuch herum und saß auf der Couch, nachdem wir unsere kleine Runde aufgelöst hatten. Ich starrte wie paralysiert in das lodernde Feuer und ließ meine Gedanken sich überschlagen. Es würde  nicht mehr lange dauern und die Stimme meiner Eltern trat an mich heran. Mein Kopf platze vor Erinnerungen und Bildern, die durch ihn hindurchschossen wie Kugeln von einem Gewehr.
„Ich bin froh, wenn du wieder weg bist!" hörte ich eine Stimme und brauchte einige Sekunden um sie zu realisieren und zu lokalisieren. Waren auch das nur Erinnerungen oder war es das Hier und Jetzt? Ich drehte meinen Kopf nach rechts, in die Richtung von der ich glaubte von da aus die Stimme gehört zu haben. Marie stand an ihrer Zimmertüre und sah mich mit verschränkten Armen an.
„Wie bitte?" fragte ich leise und löste meine starre Haltung indem ich kurz meinen Kopf schüttelte.
„Du hast mich schon verstanden!"
„Wo soll ich denn deiner Meinung nach hin?"
„Nach Hause! Ihr geht mir richtig auf die Nerven. Ihr alle seid allesamt illoyal und belügt Marcus von vorne bis hinten. Die einzige, die ihn wirklich liebt bin ich!" fuhr sie fort und kam mit einer bedrohlichen Körperhaltung auf mich zu. Ich war mir nicht sicher, was genau die aufgebracht Rothaarige vorhatte und stand auf. Knapp vor mir blieb sie stehen.
„Auch du bist nur verlogen und hinterlistig. Du spielst sein Spiel nur damit du deine Eltern kontaktieren kannst. Du gibst dich Marcus gegenüber als die nette, hörige, kleine Teenagerin aber ich habe dich durchschaut." Ich hob eine Augenbraue.
„Meinst du die Situation, in der ich ihm gegen sein Knie getreten habe und mich vor Sam gestellt habe? Meinst du das mit nett und hörig?" provozierte ich mein Gegenüber, die nun ihren Arm ausstreckte und mir mit ihrem Zeigefinger gegen die Schulter tippte.
„Verarsch mich nicht ich werde euch alle los! Glaube mir euch alle... bei der einen oder anderen wird es einfacher gehen bei der einen oder anderen nicht aber am Ende habe ich Marcus für mich alleine." Sie verengte ihre Augen und ich spürte sie machte keine Scherze. Ich schluckte. Sollte Sam Recht mir der Annahme haben, dass Marie sie gesehen hatte war das nicht gut.
„Komm mal wieder runter!" wehrte ich mich nun und erhob meine Stimme. Ich packte ihre Hand und hielt sie fest.
„Was auch immer in deinem Köpfchen vor sich geht, wir alle mögen Marcus und sind ihm dankbar für seine Hilfe. Keine von uns wird gehen und dir zu liebe erst recht nicht." Die Größere zog ihre Hand aus meinem Griff und ging einen Schritt zurück.
„Das werden wir sehen Emily... das werden wir sehen!" mit dieser verheißungsvollen Aussage wandte sich die Rothaarige von mir ab und verließ das Wohnzimmer. Mein Herz raste, ich konnte nicht aufhören an Sam zu denken. Sie wollte doch nur abhauen und ihr Leben mit Thomas leben, wenn Marie sie verpetzte dann war der Plan gestorben.
„Ganz ruhig, vielleicht wird auch einfach gar nichts passieren..." murmelte ich vor mir her und sah auf als ich eine Tür hörte, die ins Schloss fiel. Ich sah erschreckt auf und zuckte zusammen.
„Ich bin es nur." Meinte Leah und lächelte freundlich.
„Meinst du Marie liebt Marcus wirklich?" fragte ich und erkannte das mein Gegenüber den Zusammenhang mit ihrem Erscheinen und meiner Frage suchte und nicht fand.
„Also, sie... ich denke sie mag ihn am meisten!" antwortete sie nach einer kurzen Pause.
„Sie will uns loswerden!"
Leah lachte auf und ging zu der Kommode aus der sie eine Schachtel Pralinen zog.
„Sie hat uns allen gedroht. Mach dir nichts draus, sie will dich nur verunsichern!" mit einer Schokopraline in der Hand drehte sie sich wieder zu mir herum. „Vergiss die Psychopathin!" riet sie mir und ging in die Richtung, in der ihr Zimmer lag.
So locker wie Leah konnte ich das Geschehene nicht sehen. Vielleicht hatte die Schwarzhaarige ja recht aber wenn nicht dann würde Marie ein Hindernis darstellen, das ausgeräumt werden musste.
„Andererseits..." flüsterte ich wie in einem Monolog vor mir her. „Wird sie auch hilfreich sein können, ihr ist wohl egal wohin wir verschwinden hauptsache wir tun es. Wenn Sam Glück hat wird Marie ihr dabei unweigerlich helfen." Dieser Gedanke beruhigte mich ungemein und viel zu schnell. Ich war mit meinen eignen Plänen so beschäftigt, dass ich gar nicht mehr weiter überlegte und mich meinen nächsten Zügen hingab.

Sein Wort - Mein Gesetz (slow update / In der Überarbeitung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt