Die Stimmen

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„Emily, es ist soweit. In ein paar Minuten wirst du deine Eltern sprechen." Verkündete Marcus lächelnd und saß mit mir in seinem Büro. Ich hatte Platz auf der bequemen Couch genommen und er saß wie sonst auch in dem Sessel. Mein Bein wippte nervös auf und ab, ein Unterdrücken dieser körperlichen Sprache war kaum möglich.
„Damit du aber nicht vollkommen durchdrehst trinken wir erst einmal ein Schluck Sekt und feiern deine neugewonnene Freiheit." Er reichte mir ein Glas und ich nahm das Getränk entgegen. Freiheit, das klang gut und er hatte nicht mal Unrecht damit. Sobald meine Eltern wussten, dass ich noch lebte würden sie wieder nach mir suchen. Durch Thomas und Sam hatte ich die nötigen Informationen um ihnen kurz und bündig zu sagen, wo ich mich aufhielt. Wir stießen an und ich ließ die gekühlte Flüssigkeit meinen Rachen herablaufen.
„Danke." Meinte ich während ich das Glas auf den Tisch stellte. Marcus lehnte sich etwas vor und legte seine Hand sachte unter mein Kinn.
„Für was?"
„Na für deine Hilfe! Wie auch immer ich hierher glangt bin und wer noch mit dir unter einer Decke steckt ich bin einfach nur dankbar, dass ich hier gelandet bin und bald meine Eltern sprechen kann!"
„Emily, dafür brauchst du dich nicht bedanken. Ich weiß wir hatten einen unglücklichen Start bei Nicholas und ich hatte gehofft, dass du mich mit anderen Augen sehen würdest. Ich bin froh, dass es dazu gekommen ist und du mir vertraust!" entgegnete er leise und kam mir mit seinem Gesicht näher.
„Das tue ich..." hauchte ich und mir war klar was nun kommen würde. Kurz darauf spürte ich seine Lippen auf meinen und ließ es zu. Das war das mindeste, er hatte mich weder zum Sex gedrängt noch etwas Anderes von mir verlangt was ich ihm nicht geben wollte. Was war schon ein Kuss gegen das was folgen würde? Er beendete den kurzen Kuss und sah mir tief in die Augen.
"Eine Sache gibt es aber noch!" fing er an und fixierte weiterhin meine Augen. Ich nickte leicht. "Kein Wort über das Geschehene. Wir werden es ihnen gemeinsam sagen, wenn sie hier sind." Ich nickte wieder diesmal heftiger. Wenn das alles war? Ich durfte keinen Fehler machen und keinen Blick offenbaren, der ihm zeigen konnte, dass ich einen ganz anderen Plan verfolgte.
„Wollen wir dann?" lächelte er und stand dabei auf.

Ich tat es ihm gleich und spürte diese Aufregung. Alles hing an einem seidenen Faden, ich durfte keine Fehler begehen und musste sofort reagieren. Sobald ich die Stimme meiner Eltern hörte war es an mir die Chance zu nutzen und loszulegen. Marcus durfte keine Möglichkeit haben mich zu unterbrechen. Ich atmete tief ein und ging mit ihm zum Telefon, das auf dem Schreibtisch stand. Er nahm auf seinem Stuhl Platz nachdem er mich auf den Stuhl vor den Tisch platziert hatte. Ich legte meine Hände auf meine Knie und sah zu wie der Mann mir gegenüber eine Zahlenkombination eingab und das Telefon funktionstüchtig machte. Von einer Sekunde auf die andere überkam mich ein Druck im Kopf. Ich griff mir an die Schläfe und senkte den Blick. Er war so präsent und einnehmend, dass ich das Umfeld verdrängte.
„Die Nummer." forderte Marcus mich auf ihm die Zahlen zu nennen. Es wirkte so als hätte er mich bereits danach gefragt. Das hatte ich gar nicht mitbekommen. Ich hob meinen Kopf und sah ihn konzentriert an. Meine Sicht wurde unscharf und ich nuschelte die Nummer vor mir. Beinahe automatisch kamen sie über meine Lippen, die sie plötzlich trocken anfühlen. Seine Finger folgten meinem Befehl und ich hörte das Freizeichen, das immer dumpfer wurde. Wieder blinzelte und versuchte den Schleier auszublenden, der sich innerhalb wenigen Sekunden gebildet hatte.
„Alles in Ordnung?" wollte Marcus wissen und auch diese Frage trat nur in Watte gepackt an mich heran.
„Ich weiß nicht..." murmelte ich und hielt mir die Stirn. War daran etwa die Aufregung schuld?
Das Freizeichen verstummte und jemand ging ran. Ich hörte sie, ich hörte die Stimme meiner Mutter. Sie schallte durch die Lautsprecher und erfüllte den Raum. Mein Herz fing an zu rasen, doch das Gefühl benommen zu sein verging nicht. Was konnte ich nur machen gegen diese Ohnmacht, die mich überfallen hatte? Marcus schien mit ihr zu reden, das erkannte ich an den Bewegungen seiner Lippen aber ich verstand kaum etwas.
„Los sag was!" befahl mir der Ältere und schob mir das Telefon hin. Ich stand von dem Stuhl auf als die Panik mich überkam. Ich musste die Chance nutzen mit meiner Mutter zu reden. Ich musste dafür sorgen, dass sie mich finden konnte. Ich wollte die geringe Distanz zwischen der wahren Freiheit und mir überbrücken doch das ging nicht. Das Gleichgewicht verließ mich, der Schreibtisch entfernte sich immer weiter von mir und wurde unerreichbar. Ich sackte zusammen landete zuerst auf meinen Knien und fiel dann zur Seite auf den Boden. Der Aufprall hätte mir Schmerzen bereiten müssen, doch das tat er nicht. Mein Körper war wie gelähmt und komplett schmerzunempfindlich. Regungslos ohne die Möglichkeit auch nur einen Muskel zu rühren lag ich auf dem Grund.

Was war geschehen?

Ich versuchte mich auf den Bauch zu drehen und schaffte es nur mit Mühe. Ich streckte meinen Arm nach dem Tischbein aus um mich daran hochzuziehen doch meine Fingerspitzen waren das einzige, was das Holz berührte. Marcus hatte mir etwas in den Sekt getan. Neben der Resignation erfüllte mich eine Wut, die ich am liebsten rausgebrüllt hätte. Stattdessen presste sich die Wut durch Tränen an die Oberfläche.
„Tut mir leid, da habe ich mich wohl verwählt!" hörte ich Marcus noch sagen, bevor eine beunruhigende Stille meinen Körper einnahm. Ich konnte nichts sagen, kein Wort kam über meine Lippen, die sich nicht mehr nur trocken sondern auch angeschwollen anfühlten. Wieder nur mit Mühe schaffte ich es meine Finger an meinen Mund zu führen um zu prüfen ob mein Gefühl stimmte. Es stimmte nicht. Ein Schatten tauchte vor mir auf. Ich hob den Kopf ein wenig konnte ihn aber nicht halten und legte ihn auf die linke Wange. Marcus ging vor mir in die Hocke und strich mir über das Haar. Die Berührung kam ebenso dumpf an wie seine Worte.
„Was ist denn nur los?" fragte er als könne er sich mein Benehmen nicht erklären und zog an meinen Haaren, mein Gesicht erhob sich vom Boden. Ein Schmerz vernahm ich nicht.
„Glaubst du wirklich ich würde deine Lügen nicht bemerken... ich habe dir gesagt du sollst nicht mehr über ihn reden und du hast es dennoch getan..." Er hielt das Foto von Nicholas vor mein Gesicht und ließ meinen Kopf fallen. Der Aufprall war zu hören aber nicht zu spüren.
„Du..." versuchte ich ihm etwas entgegenzusetzen doch es blieb bei dem Versuch. Ich sah mit benebelten Blick dabei zu wie er das Foto in der Mitte zerriss und es auf den Boden fallen lief. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Alles war zu Ende, die Freiheit war nicht mehr zu erreichen und Nicholas war nicht hier um mich zu retten. Er hatte sein Versprechen genauso wenig wahr gemacht wie Marcus. Die Tränen rannen über meine Wangen.
„Ich dulde vieles aber keinen Verstoß gegen meine Regeln, das wusstest du und dennoch hast du dich nicht darangehalten!" knurrte er und erhob sich. „Du glaubst jetzt bestimmt ich hätte dich von Beginn an belogen oder? Ich kann mir vorstellen, dass du der Meinung bist, das Ganze war geplant und ich wollte dir gar nicht wirklich helfen! Dem ist nicht so! Ich habe dir von Anfang an nur die Chance angeboten mit dienen Eltern zu sprechen. Nicht mehr und nicht weniger. Das du diese nicht genutzt hast ist nicht meine Schuld." Meine Augen fixierten nur seine braunen Lederschuhe, die sich von mir entfernten. „Bleib du hier liegen und warte brav auf mich. Ich habe noch etwas zu erledigen!" Er ging zum Schreibtisch, was er da machte konnte ich nicht mal erahnen. "Heute wird sich einiges ändern, ich lasse mir von euch undankbaren Schlampen nicht mehr auf der Nase rumtanzen! Heute wird aufgeräumt!" Er war sauer, das war kaum zu überhören nur was genau hatte er vor?

Es war mir nicht möglich, jemanden zu warnen oder ihn aufzuhalten. Ich war nicht mal mehr in der Lage meine Augen offen zu halten. Das Mittel brachte mich dazu einzuschlafen.

In einen traumlosen und viel zu langen Schlaf.
Danach war nichts mehr wie es einmal war.

Sein Wort - Mein Gesetz (slow update / In der Überarbeitung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt