Wie Marcus versprochen hatte durfte ich mich innerhalb der Mauern weitestgehend frei bewegen. Doch genau diese Chance nutzte ich nicht. Für mich bestand keine Notwendigkeit, die einzelnen Räume oder gar andere Menschen kennenzulernen. Der Drang in meinem Zimmer zu liegen und zu verhungern war so viel größer als meine Umgebung zu erkunden. Doch diese Rechnung hatte ich ohne meine Pflegerin gemacht. Ganze zwei Tage ließ sie mich beinahe in Ruhe, reichte mir nur das Essen und etwas Wasser. Doch am dritten Tag riss ihr wohl der Geduldsfaden! Sie zwang mich regelrecht dazu mich zu bewegen. Nach etlichen Diskussionen und handgreiflichen Übergriffen gab ich schließlich nach und setzte mich widerwillig in Bewegung. Die dickliche Frau im Schlepptau fand ich die Waschräume, den Aufenthaltsraum, die Cafeteria und sonstige unwichtige Räume. Melissa beobachtete jeden Schritt von mir genauestens. Ihr war wohl noch nicht aufgefallen, dass ich keine Anstalten machte auch nur im Geringsten Unsinn anzustellen. Leblos trug ich mich zwischen den anderen Patienten hindurch an Zimmer vorbei, die offen standen. Im Inneren befanden sich hier lebende junge Frauen und Männer. Ob sie krank wirkten oder nicht mochte ich zu diesem Zeitpunkt nicht beurteilen, für mich gab es nicht mehr als mich und meine Einsamkeit. Die weihnachtliche Dekoration wurde allmählich aufgeräumt und genau das erinnert mich an die schmerzliche Realität, dass ich Weihnachten nicht mit meiner Familie verbracht hatte. Kein heißer Kakao mit Marshmallows für Emily. Keine Familie, keine Liebe, keine Geborgenheit. Nichts blieb mir bis auf Melissa, die mich auf Schritt und Tritt verfolgte. Nach der Situation in der Cafeteria war das Verhältnis nicht mehr ganz so verbittert, dennoch konnte sie es nicht lassen mir ab und an provokante Kommentare an den Kopf zu werfen. Sie erhoffte sich sicherlich eine Reaktion meinerseits, doch da musste ich sie enttäuschen.
Nach einem überschaubaren Rundgang kamen wir in der Küche an. Was genau ich hier sollte wusste ich nicht, als sich Melissa jedoch einige Donuts schnappte war mir der Grund plötzlich klar.
"Willst du auch einen?" fragte sie und streckte mir einen fettigen Gebäckkringel entgegen. Ich schüttelte den Kopf und sah mich um während meine Aufpasserin "Hättest eh keinen bekommen" von sich ließ. Mein Blick glitt durch die Großküche, die aussah wie die aus meiner alten Schule bis er an einem Messer halt machte. Ich hatte es bereits einmal versucht und nicht gewollt und doch beinahe geschafft. Vielleicht war das der Wink mit dem Zaunpfahl, die wenige Kraft zusammenzukratzen und eine letzte Aktion zu starten. Langsam und vorsichtig bewegte ich mich zu der Waffe. Melissa redete mit dem Koch und es war mir nicht möglich zu übersehen wie sie ihn anhimmelte. Sie biss so erotisch wie es ihr möglich war in ihren Donut und versuchte den Augenkontakt nicht zu unterbrechen. Alles hier spielte mir in die Karten, das musste der Plan für mein Leben sein. Das hier musste alles geschehen um endlich zu entkommen. Ich schaffte, das Messer unbemerkt zu greifen und es hinter meinem Rücken zu verstecken. Diese burschikos wirkende Person schien auf den ersten Blick zwar pflichtbewusst doch so verlässlich war sie gar nicht. Ivan wäre so ein Fehler nicht unterlaufen. Noch bevor die Verknallte reagieren konnte setzte ich mich in Bewegung und stürmte zu der Doppeltüre, die ich aufstieß und loslief. Niemand konnte sich mir in den Weg stellen, dafür sorgte das Messer in meiner Hand. Die Pfleger sprangen zur Seite und auch die Patienten machten mir Platz als ich auf sie zu gelaufen kam. Ich versuchte die nächste Ecke zu bekommen und rutschte dabei weg. Mit einem schmerzhaften Stoß landete ich an der Wand das Messer einige Meter von mir entfernt. Ich sah zu der Richtung aus der ich gekommen war und ich erblickte Melissa, die schwitzende auf mich zu gehetzt kam hinter ihr zwei mir fremde Männer. Ich sah zum Messer, das eine junge Frau aufgehoben hatte und mir hinhielt. Unter Schmerzen rappelte ich mich auf und ließ mir meine einzige Waffe reichen. "Danke!" sagte ich schnell und setzte meinen Weg fort. Sie jubelte mir hinterher und klatschte. Ahnungslos wohin ich musste rannte ich so schnell ich konnte. Das Adrenalin tat seine Arbeit und brachte mein Körper auch Hochtouren. Ich hatte nichts verlieren! Das Schild, das den Ausgang symbolisierte erschien in meinem Blickwinkel. Das musste Schicksal sein! Wenn Marcus mich haben wollte würde er nicht wollen, dass ich mir etwas antat! Das würde ich aber wenn sie mich nicht laufen ließen.
„Haltet sie fest!" Männer in weißen Kitteln stellten ihre Arbeit ein als ich an ihnen vorbeigelaufen kam und versuchten mich zu greifen. Es war mir möglich den Händen zu entkommen auch wenn das ein oder andere Mal das Messer einsetzen musste. Ich schaffte es bis zum Ausgang und brachte sogar den Kerl, der für das öffnen zuständig war meinem Willen nachzukommen. Kurz darauf empfing mich die kalte Luft der Außenwelt. Es war vorbei! Ich wollte weiterlaufen Richtung Tor, als zwei Scheinwerfer meine Person erfassten. Reflexartig blieb ich stehen, als ein Mercedes genau vor mir hielt und mich mit seinem Licht gefangen nahm. Mein Herz schlug mir bis zur Brust und ich atmete hastig ein und aus. Das Messer fest im Griff bereit jeden abzustechen, der mir zur nahe kam. Marcus stieg aus dem Wagen aus aus und kam langsam auf mich zu, dabei hielt er beschwichtigend die Hände hoch.
Warum kam er ausgerechnet jetzt? Hatte das Schicksal mich verarscht? Hatte es mir eine Illusion aufgezeigt, die nicht dem entsprach, was wirklich? Bestand nie eine reelle Chance abzuhauen?
„Verzieh dich." Zischte ich und hielt das Messer wie eine Waffe vor mich. Mein Puls raste und das Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich würde nicht aufgeben, ich würde es nicht wieder verpatzen.
„Mister Lane..." stellte Melissa das offensichtliche fest und ich drehte mich so, dass ich den Hausherrn und die Dicke im Blick hatte.
„Ein Schritt und..." Ich hielt mir die Klinge an die Kehle.
„Was willst du damit bezwecken?" fragte Marcus und nahm die Hände runter.
„Ich bringe mich um, wenn du mich nicht sofort gehen lässt!" An seiner Reaktion konnte ich erkennen, dass er seine kurzzeitige Unsicherheit abgelegt hatte und meine Aktion nur noch belächelte. Es machte mich rasend, die Hilflosigkeit steckte in meinem Knochen.
"Du glaubst mir nicht!" schrie ich weiter und setzte die Klinge an meine Kehle.
"Auch davon hättest du nichts!" entgegnete er nüchtern.
"Lieber sterben als hier zu bleiben!" sagte ich nun leiser. "Ich weiß, ich werde nie wieder frei sein. Was soll das sinnlose kämpfen dann noch?" Ich drückte die Klinge in mein Fleisch und kniff die Augen zu, Tränen pressten sich an die Oberfläche. Ich wollte sterben, in diesem Moment wollte ich einfach nur noch sterben um diesem nie enden wollenden Alptraum zu entkommen. Ich dachte an Nicholas, wie er sein Versprechen mich zu finden nicht eingelöst hatte und es vielleicht niemals getan hätte. Bevor ich mir die Kehle aufschlitzen konnte spürte ich einen starken Ruck und den Aufprall meines müden Körpers auf dem kalten Grund. Zwei Männer waren auf mich gestürzt und hatten mich zu Fall gebracht. Das Messer wurde mir aus der Hand gerissen und ich öffnete die Augen.
„Lasst mich." Schrie ich hysterisch und schlug und trat, ich versuchte alles was ich konnte doch das war nicht mehr sonderlich viel. Einer hielt meine Arme auf meinen Rücken fest und der andere zog eine Spritze hervor.
„Lass mich sterben!" schrie ich und bekam kaum Luft, meine Lunge zog sich zusammen und kam ihrer Aufgabe meinen Körper mit Luft zu versorgen nicht mehr richtig nach. Ich schrie, weinte und spürte wie sich Speichel in meinem Mund bildete und beim schreien genau diesen verließ. Mir war viel passiert, ich hatte viele Tiefs und dennoch hatte ich immer diesen einen Funken der Hoffnung.
Doch der war weg. Da war nichts mehr! Marcus ging vor mir in die Hocke.
„Du wirst eine Runde schlafen, dann wird es dir besser gehen! Deine Erfahrungen haben dich in die Irre geleitet. Deine jetzige Situation mag dir aussichtslos scheinen aber das ist sie nicht und genau das wirst du auch noch begreifen." Der Stich der Nadel war die Folge seiner Worte. Ich merkte, wie meine Arme schwer wurden, mein Körper müde und wie mir selbst das Weinen vergönnt war. Ich schaffte es kaum meine Augen offen zu halten und doch versuchte ich krampfhaft gegen die Ohnmacht anzukämpfen, die mich schließlich schonungslos mit sich riss.
Alles wurde schwarz und der Kampf war verloren.
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Sein Wort - Mein Gesetz (slow update / In der Überarbeitung)
Mystery / Thriller"Hättest du mich gesucht?" "Überall!" "Was wenn du mich schließlich gefunden hättest?" "Dann hätte ich dich zurückgeholt..." Nun lächelte er. "Zurück hierher?" "Zurück hierher...!" "Warum?" "Eines sollte dir gesagt sein... ich werde...