Sierra
Es ist schon Acht, als ich aus dem Zug aussteige. Mir kommt die dröhnende Kälte entgegen, die ich noch nie so gespürt habe. In Arizona wird es schließlich nicht besonders kalt. Ehrlich gesagt, hat mich das aber auch immer gestört. Ich mag Regen und ich liebe Kälte, auch wenn ich mich manchmal drüber aufrege, insgeheim liebe ich den Winter.
Ich halte meinen Rucksack in der einen Hand, in der anderen mein Handy.
Ich sehe mich um und suche nach einer Person, die mich ansieht, aber ich finde keine.
Ich verdrehe die Augen.
War ja klar, dass er es nicht einmal schafft mich hier abzuholen.
Vielleicht macht er wieder einen Rückzieher, so, wie damals, als er seinen Ruf mir vorgezogen hat.
Sein Beruf war ihm wichtiger als sein eigenes Fleisch und Blut. Traurig, oder?
Ich schüttele den Kopf und schmeiße meinen Rucksack über meine eine Schulter, ehe ich meine Arme verschränke, damit mir vielleicht ein wenig wärmer wird. Ich habe schließlich nur einen Sweater an, der nicht gerade sehr warm hält, aber ich habe auch nicht dran gedacht, mir noch eine Winterjacke mitzunehmen.
Ich stiefle also durch die große Bahnhofshalle und halte davor Ausschau nach Dave, der mich ja abholen sollte.
Ich verdrehe die Augen, als ich immer noch keinen Mann sehe, der Dave sein könnte.
Typisch, wahrscheinlich gab es ein Problem in der Firma. Mary, meine Tante, hat mir von der Firma erzählt. Es ist wohl einer der zwei größten Anwaltskanzleien New Yorks. Wem die andere gehört weiß ich nicht. Seitdem nehme ich die großen Plakate, auf denen der Werbespruch und Sparks steht, wahr.
Und sie hängen über all, wo auch immer ich bin, da sind die Plakate auch.
Plötzlich hupt jemand hinter mir.
Ich drehe mich um und will gerade meinen Mittelfinger zum Besten geben, als das Auto anhält und ein Mann aussteigt.
Es ist Dave, dem bin ich mir sofort bewusst.
Der Mann, der dort steht, in Anzug und Schlips, ist mein Vater. Der, der mich damals nicht geliebt hat und der mich wahrscheinlich auch heute noch nicht ausstehen kann.
Er steigt aus, bleibt jedoch an der Autotür stehen und sieht mich aufmerksam an.
Wahrscheinlich nimmt er gerade meine schwarze zerrissene Jeans wahr, meine Füße, die in dunkelgrünen Doc Martens stecken und meine blonden Haare, die ich nur in einem Knoten hoch gebunden habe und die ich von ihm habe, wie ich gerade feststelle.
Es ist nicht dieser typische Moment, in dem sich Vater und Tochter nach Jahren wieder sehen, sondern eher so, als würden Fremde aufeinander treffen.
Er kann unmöglich mein Vater sein, er sieht so desinteressiert aus, so, als wäre ich nur ein Straßenkind, dass er aufnehmen muss.
Plötzlich komme ich mir vollkommen dumm vor.
Ich bin neunzehn, ich hätte allein leben können, das volle Programm, aber ich habe kein Geld für eine Wohnung, geschweige denn für die Möbel.
Ich schlucke also schwer und gehe mit langsamen Schritten auf den Mann zu, der mich hasste, der sein eigenes Fleisch un Blut hasste.
"Hallo, Sierra Evening.", sagt er und ich zucke bei meinem Zweitnamen zusammen.
Jeder, der mich kannte, weiß, dass ich diesen Namen verabscheue, aber er kennt mich ja nicht.
Dieser Name ist verbunden mit ganz viel Leid und mit zu viel Liebe, als das er ihn sagen kann.
"Hallo. Sierra reicht.", sage ich und stehe unschlüssig vor ihm.
Immer noch sieht er mich an, betrachtet meinen Unterarm, der frei ist, weil ich die Ärmel hochgeschoben habe und auf dem mein Tattoo prangt. Es sind die Mondphasen.
Aber es ist nicht das einzige, an meiner Seite, an meiner letzten Rippe ist eine Welle gemalt.
Es sind die zwei Dinge, zu denen ich mich am meisten hingezogen fühle.
"Steig ein. Ich muss nochmal weg.", sagt er und steigt wieder in seinen hässlichen Porsche, von dem er denkt, er wäre der Oberhammer.
Ich nicke kurz frustriert, weil ich wenigstens ein "Wie geht's dir" erwartet habe, aber gut, was er kann, kann ich schon lange.
Also steige ich in das hässliche Auto, an das ich mich nie gewöhnen werde.
Zum Glück hat Mary dafür gesorgt, dass mein Range Rover hergebracht wird, zusammen mit dem Rest meiner Sachen.
"Also, um ein Paar Regeln aufzustellen; Es ist mir egal, was du machst, aber wenn ich will, dass du nach Hause kommst, kommst du. Außerdem will ich, dass du dir einen Job suchst, ich will dich schließlich nicht für immer durchfüttern."
Ich lache sarkastisch auf.
"Hatte sowieso nicht vor lange zu bleiben."
"Gut."
Ich presse meine Lippen aufeinander.
Er fragt nicht einmal nach Mum, weiß er überhaupt, dass seine erste große Liebe tot ist?
Obwohl, so groß kann die Liebe nicht gewesen sein, denn er er hat sie verlassen, da, wo es schon am schlimmsten war.
Nach einer Weile kommen wir in einem Schnöselviertel an, in dem nur Villen stehen.
Ich schüttele ungläubig meinen Kopf, die Häuser, die so schön klein und gemütlich sind, die, die dort unten am East River, der nur zwei Querstraßen weg ist, stehen, die sind schön. Aber doch nicht diese Betonklötzer hier.
"Steig aus. Celia ist da. Sag ihr, es wird spät."
Ich steige aus ohne ein Wort zu sagen.
Es war dumm her zu kommen, hier will mich doch eh niemand haben.
Ich gehe langsam zu der Haustür und klingele.
Augenblicklich höre ich das Klackern von Absätzen. Seine Frau.
Sie öffnet die Tür und ich hätte am liebsten losgeweint, sie sieht meiner Mum so ähnlich.
Sie trägt ihre braunen Haare zu einem eleganten Knoten am Hinterkopf und trägt ein gelbes knielanges Kleid, dazu hochhackige Schuhe.
"Hallo, Liebes. Du musst Sierra sein. Ich freue mich schon seit Ewigkeiten darauf, dass du kommst."
Ich nicke nur.
"Hallo, Celia.", begrüße ich sie und schlucke die Gedanken an Mum einfach runter.
Sie zieht mich in das Haus und ich ziehe mein Schuhe aus, obwohl ich weiß, dass man das hier nicht tut.
Sie sieht mich ein bisschen fragend an, aber anscheinend, findet sie es viel mehr ehrenswert, als abwertend.
"Die Fahrt war doch bestimmt anstrengend. Soll ich dir einen Tee machen?"
Ich nicke dankend und folge ihr in die Küche, die direkt an den großen Flur angrenzt.
Es ist alles weiß Hochglanz, so steril, dass es fast weh tut.
Ich bin gespannt, wie mein Zimmer aussieht. Wollen wir hoffen, dass meine Deko es bis hier geschafft hat.
Celia lässt gerade Wasser in den Wasserkocher laufen, als auf einmal Sachen die Treppe runter fliegen.
Es landen Schuhe im Flur und ich glaube, das, was so gescheppert hat, war ein MacBook, allerdings bin ich mir da nicht hundertprozentig sicher.
"Du Arschloch. Du schläfst mit mir und mit ihr? Willst du mich verarschen?", schreit eine schrille Stimme und kurz darauf kommt ein pinkes Etwas die Treppen runtergefegt.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch und sehe ihr dabei zu, wie sie ihre Bluse zuknöpft und Celia unsicher anlächelt. Mich beachtet sie gar nicht, wahrscheinlich, weil ich hier eh nicht reinpasse.
Dann kommt noch jemand die Treppe runter. Es ist ein Typ, ungefähr mein Alter. Er trägt nur eine Jogginghose und läuft der Pinken hinter her.
"Fiona!"
Ich sehe fragend zu Celia, die schmunzelt.
"Das war Yves, mein ältester Sohn."
"Der älteste? Wie viele hast du denn?"
Celia gibt mir meine Tasse und eine Packung Zucker, dann deutet sie mir kurz mich an den Esstisch zu setzen, was ich auch wirklich tue.
"Insgesamt sind es drei. Yves ist 20, Dylan ist 17 und Brand ist 14."
Ich blase meine Wangen auf und lass die Luft dann langsam wieder entweichen, Celia lacht darüber.
"Wenn man sie erst einmal kennt, sind sie gar nicht mehr so schlimm, vertrau mir."
Hoffentlich.
Genau in dem Moment kommt Yves wieder durch die Tür und bleibt kurz stehen, als er mich sieht.
"Wer ist das denn?"
"Das ist Sierra. Daves Tochter. Ich habe von ihr erzählt.", erklärt Celia und blickt ihn wütend an, wahrscheinlich, weil ihr sein Ton nicht gefallen hat.
"Wie kann sowas Daves Tochter sein?"
"Yves!"
"Ist schon gut. Besser, man sieht es nicht, dass ich mit Dave verwandt bin. Mit dem will man ja auch gar nicht verwandt sein."
"Warum bist du dann hier?", schnauzt er.
"Frage ich mich auch."
"Geh doch zurück zu deiner lausigen Mutter."
Ich schnappe nach Luft, balle die Fäuste und sehe nach unten.
Ich schlage ihn nicht, nicht jetzt schon.
Als ich wieder hoch sehe, direkt in seine Augen, weicht er einen Schritt zurück.
"Wie wäre es, wenn ich dir jetzt dein Zimmer zeige?", unterbricht uns Celia.
Ich nicke schnell und stelle meine Tasse mit Tee auf den Tisch, ehe ich Celia hinter her gehe.
Wir gehen die Treppen hinauf in die letzte Etage, wo sich vier Türen befinden.
"Ihr habt eine eigene Etage. Ihr habt zwei Bäder. Du teilst dir deins mit Yves, wenn es dir nichts ausmacht. Ich habe dir Platz im Schrank gemacht, für deine Kosmetik und so."
Sie geht nach links und dann in das hintere Zimmer.
"Das hier ist deines.", sagt sie und öffnet die Tür.
Vor mir erscheint ein schöner Raum, der weder zu klein, noch zu groß ist.
Es steht ein Bett da, ein schwarzer großer Wandschrank, eine Kommode, ein Schreibtisch und ein riesiges Regal.
"Das Regal habe ich besorgt, als deine Kisten mit den ganzen Büchern ankamen. Ich wollte sie nicht einräumen, weil ich weiß, dass jeder da ganz speziell ist."
Ich lächele leicht und sehe im nächsten Moment, dass ich ein riesiges Fenster habe, das zur Hälfte mit einer grauen Gardine bedeckt ist.
Ich sehe hinaus und kann die Brooklyn Bridge sehen.
Meine Koffer liegen auf meinem Bett, die ganzen Kartons stapeln nich davor.
"Dann lasse ich dich mal alleine. Willst du noch etwas essen?"
"Nein, aber trotzdem danke."
Sie nickt und zieht die Tür hinter sich zu.
Ich seufze und lasse mich auf das Bett fallen. Es ist wunderschön.
Nach einer Weile reiße ich die ersten Kisten auf.
Als erstes kommen mir meine Decken entgegen, die ich erst einmal auf mein Bett schmeiße.
In der nächsten Kiste sind meine Kissen, die ebenfalls auf mein Bett schmeiße.
Dann geht es los mit meiner wenigen Deko, die größten Teils aus Schallplatten und schönen Bildern besteht. Außerdem ist ebenfalls die Kiste mit den Kakteen hier, die ich alle auf mein Regal stelle und auf meine Kommode. Dann komme ich zu den viele Kisten, die meine Bücher beinhalten. Ich zerre sie vor das große Bücherregal, das größer ist, als es meines zu Hause war. Allerdings gefällt es mir zu Hause bis jetzt um Längen besser hier. Denn bis jetzt kenne ich drei Leute und von denen sind zwei totale hirnverbrannte Spacken. Als ich meine Bücher fertig eingeräumt habe, lasse ich mich auf mein Bett fallen und schlüpfe aus meiner Jeans, ehe ich mich unter die Decke kuschele und in meinem Handy nach Marys Nummer suche. Als ich sie anrufe, checke ich nochmal kurz die Uhr wegen der Zeitverschiebung, aber es ist bei ihr erst Zehn, da ist sie noch wach."Hallo, Sierra!", ruft sie aufgeregt in das Telefon und ich lächele in mich herein. Ich vermisse sie schon jetzt. Aber Mary hat einen Job in Deutschland bekommen als Journalistin. Sie schreibt wahnsinnig gut und ich beneide sie ziemlich für ihr Talent. Meine Mum war ebenfalls Journalistin, sie saß manchmal bis Nachts um 4 an einem Artikel und manchmal haben wir ihn sogar zusammen geschrieben.
"Hi, Tantchen.", sage ich, obwohl sie nur vier Jahre älter ist als ich.
"Wie ist er?", fragt sie als erstes un dich muss schwer schlucken.
"Es könnte besser sein.", sage ich nur damit sie sich keine Sorgen macht.
"Und seine Frau?"
"Die ist ziemlich nett. Ich habe noch nicht sehr viel mit ihr geredet, allerdings habe ich Stiefbrüder. Drei sogar. Einer davon ist mir heute schon begegnet und - nun ja, wie soll ich es sagen - ich glaube Freunde werden wir nicht unbedingt."
"Was hat er gemacht?"
"Er hat gesagt, dass ich wieder zu meiner lausigen Mutter gehen soll."
Als ich dies ausspreche spüre ich wieder diesen Stich in meinem Herzen, der immer da ist, wenn ich über sie rede. Meine Mutter war die tollste Frau der Welt. Sie hatte ein großes Herz und sie hätte auch Evan super nett gefunden und ja, sie hätte sich nichts desto trotz auch über ihn aufgeregt, dass ihm das Erfolg so über den Kopf gestiegen ist.
Meine Mutter hätte immer zu mir gehalten, denn sie war damals, vor 19 Jahren, nicht zu feige um mich zu behalten, Nein, sie hat mich großgezogen, ganz alleine. Anders als mein Vater.
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Carve your heart into mine
Teen FictionZukunftängste, Familienprobleme, gebrochene Herzen; Dinge, mit denen sich Sierra herumschlagen muss, als sie nach New York geschickt wird, um fortan bei ihrem Vater zu leben. Eigentlich möchte sie einfach nur leben, ohne Probleme. Denn diese hatte...