Sierra
"Du bist anders als die anderen. Du bist einzigartig. Ich weiß, ich bin der letzte von dem du das hören willst, aber ich schwöre dir; ich spreche für alle Jungs in deinem Umfeld. Deine Augen, dein Mund, deine Haare. Verdammt, ich höre mich so schwul an, aber ich komm einfach nicht mehr klar ohne dich."
Er blickt mir in die Augen und kommt mir näher.
Alles um mich herum bleibt stehen. Er ist niemand, dem alle hinterher rennen, aber er ist einer, der wenigen, die es ernst meinen. Das habe ich im Gefühl.
Sein Atem prallt auf meine Lippen und ich glaube, er kann meinen Herzschlag hören.
Seine Hände finden ihre Wege zu meinen Hüften, pressen mich an sich.Ich schrecke hoch, meine Haare kleben mir im Gesicht und mein Oberteil ist völlig durch geschwitzt.
Wenn ich gewusst hätte, denke ich.
Ich schlage die Decke beiseite und öffne das große Fenster, stelle mich dann davor und atme die kalte Luft ein.
Kurz darauf klopft es an der Tür zum Badezimmer.
"Was?", rufe ich und meine Augen weiten sich, als dort Yves durch die Tür spaziert.
"Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du nicht um sieben Uhr morgens das ganze Haus aufweckst mit deinem Schreien."
Ich zucke zusammen.
Er hat es gehört. Wahrscheinlich mein verzweifeltes Wimmern, die Laute der Verzweiflung, weil es vorbei ist.
Weil die Treue, die er mir geschworen hat, gebrochen ist.
Das Brechen meines Herzens. Schon wieder.
Als ich nicht antworte, dreht er sich um und geht wieder in sein Zimmer.
Kurz darauf, höre ich, wie sein Bett knatscht, wie er sich hinlegt.
Ich atme hörbar aus und lehne mich gegen den Fensterrahmen.
Ich sehe, wie die Flocken hinunter fallen, sich auf den Boden fallen lassen.
Evan hat Schnee geliebt.
Ich schüttele mich.
Plötzlich ist mir unbeschreiblich kalt. Ich knalle das Fenster zu, krame mir einen meiner dicksten Pullis aus dem Schrank und lasse mich auf meiner Bettbank nieder.
Ich starre durch das Fenster, starre die Brooklyn Bridge an.
Er ist schon hier, dessen bin ich mir bewusst.
Er ist in der selben Stadt wie ich, sieht den selben Himmel, sieht die selben Gebäude wie ich.
Aber er weiß nicht, dass ich hier bin. Wahrscheinlich denkt er, dass ich noch immer zu Hause in Phoenix sein würde.
Gestern, als ich mit Brand und Dylan in Manhattan war, war überall sein Gesicht an den Werbetafeln.
Es lächelte mir entgegen und ludt mich zu seiner Evening World Tour ein. Ich finde es schrecklich, dass er seine Tour so genannt hat.
Vielleicht hat er es mit Absicht gemacht, vielleicht war es einfach aus PR Gründen.
Evening; sein Lied, mit welchem er berühmt geworden war, mein 'Pseudonym' und mein zweiter Vorname.
Es war spät Abends, wir waren vielleicht sechzehn.
Ich weiß es noch ganz genau.
Wie er mit seinem Kopf auf meinem Schoß lag, die Gitarre auf dem Bauch und einfach gesungen hat.
Es war unser Lied.
Er hat Evening genannt, weil es so zweideutig war.
Ich fand das Lied toll und habe Evan gesagt, dass er es aufnehmen soll, was er auch getan hat.
Wir haben ein Video dafür geschnitten mit Bildern von unserem letzten Trip nach Los Angeles. Es waren Bilder von uns, aber auch Bilder von dem Meer, von dem Hollywood Schriftzug.
Es waren kaum Bilder von uns von vorne drauf, ein mal hat man Evan von vorne gesehen, mich nie, was eine gute Entscheidung war, wie sich ja jetzt herausgestellt hat.
Es war ein Hit über Nacht.
Es hatte aufeinmal über eine Million Klicks und es wurden große Plattenfirmen auf ihn aufmerksam, wollten mit ihm zusammen arbeiten und ihn berühmt machen.
Innerhalb von drei Monaten landete Evening auf Platz 1 der World Charts.
Er konnte auf einmal mit Kesha und Beyoncé an einem Tisch sitzen, alle flogen auf ihn und somit wurde ich ebenfalls in den Fame mit rein gezogen.
Evans Manager kam damals auf die Idee, dass ich mich nie von vorne zeige- öffentliche Galas ließ ich aus-, ich nur unter dem Namen 'Evening' bekannt bin und das ich meine Haare immer wieder färbe. Ich hatte sämtliche Grün- und Blautöne auf meinem Kopf. Ich habe mich immer gegen pink und lila gewährt, weil ich das persönlich überhaupt nicht mag.
Am liebsten mochte ich die dunkelblaue Farbe, sie war besonders, hatte man noch nicht so oft gesehen.
Dereck, also Evans Manager meinte, es sei so besser, da wir noch jung waren und man nicht wüsste, was in einem halben Jahr mit unserer Beziehung sein würde. Er fand es unwahrscheinlich, dass wir noch zwei weitere Jahre zusammen sein würden. Aber wir waren noch zwei Jahre zusammen. Wir haben es geschafft, auch wenn wir am Ende bitter daran gescheitert sind.
Wir waren oft auf den Titelbildern von hunderten Klatschzeitungen und oft hat man sich über uns das Maul zerrissen, vor allem über mich, da es keine Fotos von mir von vorne gibt und wenn, dann kann man mein Gesicht nicht erkennen.
Sie haben wirklich eine Menge Geld dafür investiert, dass es keine Bilder von mir gibt und dem bin ich dankbar.
Sonst wäre ein Leben wie jetzt unmöglich.
Ich schrecke hoch, als ein Klopfen ertönt.
"Ja?", frage ich und wische mir einmal über das Gesicht.
Kurz darauf steckt Brand den Kopf durch die Tür und kommt zu mir.
"Hi, Sierra.", sagt er und setzt sich neben mich.
"Hi, Brand."
"Yves weigert sich, mich zur Schule zu fahren. Kannst du?"
"Ja, aber müsstest du nicht längst dort sein?", frage ich mit Blick auf die Uhr, kurz vor halb Zehn.
"Ich habe die ersten beiden frei. Meine Geschichtslehrerin ist nicht da."
"Gib mir zwei Minuten.", meine ich und Brand geht aus dem Zimmer.
Ich ziehe schnell eine Jeans und einen schwarzen Hoodie an, klatsche mir schnell Concealer unter die Augen und Mascara auf die Wimpern.
Dann stolpere ich mit meinem Handy und meinen Autoschlüsseln die Treppe hinunter und schlüpfe in meine Schuhe.
Brand steht schon draußen und wartet.
Zusammen rennen wir zu meinem Auto, da der Schnee massiv zugenommen hat.
Ich lobe mich selbst dafür, dass ich eine Frostschutzmatte auf die Fronstscheibe getan habe, ehe ich einsteige.
Ich starte den Motor und schalte sofort die Heizung an, die uns sachte Wind ins Gesicht weht.
Ich manovriere mein Auto aus der Einfahrt und folge Brands Wegweisungen bis wir vor einer High School stehen bleiben.
"Ist grade Pause?", frage ich Brand und steige ebenfalls aus, als er nickt.
Ich grinse fies in mich hinein, als ich die Lunchtüte vom Rücksitz nehme, die Dylan heute früh vergessen hat.
Ich gehe Brand hinter her bis zum Schulhof, wo so gut wie alle stehen. Denke ich zumindest. Aufjedenfall sind es verdammt viele Leute.
Ich sage Brand Tschüss und suche dann weiter nach Dylan.
Einige sehen mich komisch an, bekommen deswegen einen giftigen Blick meinerseits.
Ich atme auf, als ich Dylan an einer Wand gelehnt neben der Eingangstür entdecke.
Ich gehe auf ihn zu und es dauert nicht lange, bis er mich entdeckt hat.
Er runzelt die Stirn, was die anderen Jungs ebenfalls auf mich aufmerksam macht.
"Brüderchen!", flöte ich und wedle mit der Tüte.
Ich muss mich wirklich stark beherschen um nicht einfach einen Lachanfall zu bekommen.
"Da mir früher nie vergönnt war, die große Schwester raushängen zu lassen, mache ich es eben jetzt. Dyli, du hast dein Frühstück vergessen."
Er schüttelt belustigt den Kopf, während seine Kumpels fast auf dem Boden kriechen vor Lachen.
Ich drücke ihm die Tüte in die Hand und mache mich dann schnell zum Rückzug.
Als ich in meinem Auto sitze, lache ich mich erst mal schlapp, ehe ich los fahren kann.
Als ich mich eingekriegt habe fahre ich vom Parkplatz.
Es ist jetzt um Zehn.
Ich muss erst heute Abend um Sieben im Diner sein.
Ich seufze und fahre nach rechts, über die Brooklyn Bridge direkt nach Manhattan.
Ich sehe hoch zu den Werbetafeln, überall Evan.
Es steht überall, dass das Konzert, welches heute ist, schon seit Monaten ausverkauft ist und man höchstens noch welche von der Abendkasse bekommt.
Ich fahre bis zum Central Park, parke dort und steige aus dem Auto.
Ich vergrabe meine Hände tief in den Jackentaschen und setze mich auf eine Bank, die Sicht auf den Teich hat.
Es joggen trotz der dürrenden Kälte noch Leute an mir vorbei, Frauen mit dicken Wintermänteln, gehen an mir vorbei, schieben vor sich einen Kinderwagen.
Und dann sind da noch die Touristen, die jeden Moment stehen bleiben, um etwas zu fotografieren.
Plötzlich klingelt mein Handy.
Mary.
"Hi, Mary.", melde ich mich.
"Hallo, Sierra. Wie gehts dir?"
"Ganz gut. Und dir? Wie ist Deutschland?"
"Es ist ganz schön hier, allerdings ist Berlin jetzt nicht unbedingt das schönste."
"Ist halt ne Großstadt."
Ich höre sie lachen am anderen Ende der Leitung.
"Und sonst? Was machst du?"
"Also gerade sitze ich im Central Park auf einer Bank und warte darauf, dass die Zeit vergeht."
"Geh doch shoppen."
"Nein."
"Wieso nicht?"
"Da sind über all Werbetafeln, die ich nicht mehr sehen kann."
"Was gibts denn?"
"Evans erstes Konzert von seiner Evening World Tour."
"Ach du je. Heute?"
"Heute."
"Denk da nicht so drüber nach. Du verdienst besseres, als ihn."
"Vielleicht.", schnaufe ich und denke kurz nach.
"Wieso bist du überhaupt schon wach? Haben wir nicht irgendwie sechs Stunden Zeitunterschied?"
"Ich fliege heute direkt mit meinem Chef nach München für ein großes Event."
"Das ist ja toll."
"Ja, ich freue mich schon total."
"Welches Kleid ziehst du an? Das grüne, bei dem deine Augen so toll rauskommen?"
"Ja, ich denke schon."
Wieder seufze ich.
"Ich vermisse dich."
"Ich vermisse dich auch. Aber ich muss jetzt auflegen. Es hat gerade geklingelt, ist bestimmt der Chef."
"Okay. Tschü!"
Ich drücke den roten Knopf und stehe dann wieder von der Bank auf, ehe ich wieder zu meinem Auto gehe und zurück fahre.
Als ich wieder da bin, ist es halb Eins. Es riecht nach Essen, als ich die Tür aufschließe.
Und ich liege richtig.
Celia hat Bolognese gemacht.
"Ich hab gedacht, dass du Hunger hast, deswegen habe ich jetzt schon was gekocht."
"Dankeschön."
"Ich muss aber auch dchon wider los. Die Firma ruft."
Celia ist Sekreterin bei Dave und hat lange Arbeitstage, die bestimmt ziemlich anstrengend sind.
"Okay."
Kurz darauf stürzt sie in ihren Pumps los, wirft sich ihren Mantel über und ist im nächsten Moment schon aus der Tür.
Ich nehme also den Teller mit nach oben in mein Zimmer und fange an zu essen.
Es schmeckt gut, aber mich wundert es, dass es hier soetwas wie Bolognese gibt.
Ich weiß, dass das alles Vorurteile sind. Aber ich meine, ich bin schon überrascht, dass Celia überhaupt kocht und sich dafür nicht zu schade ist.
Dave ist schließlich auch nicht gerade der tollste Ehemann, den es gibt.
Ich atme tief ein und klappe meinen Laptop auf.
Auf der Startseite von Google springt mir sofort Evan ins Gesicht. Es ist ein Interview, vielleicht vor 5 Minuten hochgeladen.
Bevor ich weiter drüber nachdenke klicke ich drauf.
Das Gesicht wird größer.
Ich drücke auf Play.
"Wie fühlt sich das an? Ein Weltstar zu sein?", fragt der Reporter, der den ganzen Bildschirm bedeckt.
"Immer noch ziemlich komisch. Klar, mittlerweile sind es drei Jahre, aber so richtig daran gewöhnt habe ich mich noch immer nicht."
Seine Locken fallen ihm ins Gesicht, seine braunen Augen sehen leer aus.
Er sitzt auf dem Stuhl, als hätte er Mühe sich dort zu halten.
"Gefällt ihnen New York?"
"Ja, sehr. Ich wäre gerne noch länger hier, als diese vier Wochen, obwohl ich über die schon froh sein müsste."
Er lächelt, aber er lügt.
Ob er weiß, dass ich hier bin?
Ich, die den Namen seines erfolgreichsten Liedes trägt?
"Wie kommt es, dass sie ihre Tour nach Evening benannt haben, wenn sie doch schon seit einem Jahr nicht mehr zusammen sind."
"Mein erstes und beliebtes Lied heißt so. Ich denke, das ist Grund genug."
Er schluckt hart und spannt seine Wangenknochen an.
Das hat er immer getan, wenn er wütend war.
"Haben Sie noch Kontakt zu Evening?"
"Nein. Ich habe keine Ahnung, was sie gerade tut, geschweige denn wo sie ist."
"Glauben Sie, dass sie bei Heute Abend bei der Eröffnung bei ist?"
"Nein, ich denke nicht."
"Weswegen?"
"Sie ist nicht die Person, die anderen hinter her läuft, sondern, die, hinter der man hinter her läuft."
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Carve your heart into mine
Teen FictionZukunftängste, Familienprobleme, gebrochene Herzen; Dinge, mit denen sich Sierra herumschlagen muss, als sie nach New York geschickt wird, um fortan bei ihrem Vater zu leben. Eigentlich möchte sie einfach nur leben, ohne Probleme. Denn diese hatte...