XXXVI.

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JINSEO'S POINT OF VIEW.

Meine Augen möchte ich nicht öffnen. Ich möchte nicht die schuldbewussten Gesichtsausdrücke der Personen sehen, die sich in meinem Zimmer befinden. Auch wenn sie nichts sagen, so kann ich trotzdem davon ausgehen, dass ich nicht alleine bin.

Alleine an dem Geruch kann ich erkennen, dass ich mich in einem Krankenhaus befinde – und ich hoffe wirklich sehr, dass es nicht das Krankenhaus meines Vaters ist.

Ein Schluchzen durchbricht die Stille und mein Herz zieht sich augenblicklich zusammen. Es muss sich um Sanha handeln. Er gibt sich wahrscheinlich die Schuld. Es tut mir leid, dass ich mich gegen Vater nicht selbst beschützen konnte.

Ja, ich kann Wushu, aber ich möchte gegenüber meinem Vater ungern diese Kampfkunst anwenden. Nach allem, was er mir und meinen Brüdern angetan hat, ist er  immer noch mein Vater.

»Mach' dir keine Vorwürfe«, vernehme ich die sanfte Stimme meines großen Bruders, der meinen kleinen Bruder vermutlich einen Arm um die Schulter legt, um ihn dann an sich zu drücken, damit er nicht das Gefühl hat, dass er der Einzige ist, der diese Schuldgefühle verspürt. »Dich betrifft keinerlei Schuld, Sanha. Es wird Jinseo gut gehen, hast du gehört? Unsere Schwester wird man nicht so einfach los.«

Meine Kehle fühlt sich trocken an und trotzdem schaffe ich es meinen Mund zu öffnen. »M-Mir geht's g-gut«, murmle ich leise und höre nur noch, wie eine Person nach Luft schnappt. Dann öffne ich meine Augen und schaue in die verweinten Gesichter meines kleinen Bruders und meiner Mutter.

Erinnerungsfunken tanzen vor meinem inneren Auge und ich sehe erneut meinen Vater vor mir, der mir Vorwürfe macht und mich anbrüllt, seine Hand unaufhaltsam gehoben hat und beim letzten Mal so fest zugeschlagen hat, dass ich mit meinem Kopf voraus gegen die Kommode gestürzt bin. Und dann erinnere ich mich daran, wie ich seine weit entfernte Stimme gehört habe, wie er sagte, dass ich mich nicht so anstellen und mich wieder aufrichten soll, da er mit mir noch nicht fertig ist. Er hat etwas darüber gesagt, dass er mich zurück in mein Elternhaus holt und ab sofort unter Beobachtung stehen hat.

Jeden Schritt und Tritt, den ich wage.

Genauso hat er es gesagt.

Und diesmal lasse ich es nicht auf mich sitzen, weil ich an meine Familie denke.

Diesmal werde ich an mich denken.

»Eomma, ich erstatte gegen Park Seunghyun eine Anzeige wegen Körperverletzung«, sage ich geradeheraus, nachdem ich einige Minuten stillschweigend auf die weiße Bettdecke gestarrt habe. »Er hat alle Grenzen überschritten. Es kann so nicht weitergehen.«

Meine Mutter nickt, ihre Augen schimmern vor Tränen, während ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst sind. Langsamen Schrittes kommt sie auf mich zu und geht auf ihre Knie. Vorsichtig, als wäre ich aus Glas, nimmt sie meine Hand in ihre und bricht in Tränen aus.

»Es tut mir leid!«, schluchzt sie und senkt ihren Kopf, stützt ihre Ellenbogen auf die weiche Matratze ab. »E-Es tut mir so furchtbar leid! Ich hätte dich beschützen müssen und habe so schrecklich versagt! Es tut mir so schrecklich leid!«

Ein Klos breitet sich in meinem Hals aus und Tränen bilden sich in meinen Augen.

Sie trifft keine Schuld. Niemanden trifft Schuld. Der einzige Schuldige ist Park Seunghyun, mein Vater. Und er wird dafür büßen.

• • •

Meine Fresse, meine Kopfschmerzen sind fast nicht auszuhalten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht liege ich in dem Krankenhausbett und bin trotz allem überaus erleichtert, dass ich mich nicht in dem Krankenhaus meines Vaters befinde.

Ein leises Seufzen verlässt meine Lippen, als ich meinen Blick auf die Schmerztabletten, die auf dem kleinen Tisch, das neben meinem Bett steht, liegen, lenke und schließlich nach dem Glas Wasser greife, um zwei Schmerztabletten auf einmal herunterzuschlucken.

Hoffentlich wirken die Tabletten schnell und ich kann wieder normal denken, ohne die ganze Zeit von Kopfschmerzen geplagt zu werden.

Ein Klopfen durchreißt die erstickende Stille. »Herein«, sage ich leise in den Raum herein, woraufhin sich die Tür öffnet und Junmyeon im Türrahmen steht. Er sieht mich mit einem besorgten Blick an und schritt schließlich in das Zimmer.

Bedacht schließt er die Tür und setzt sich, nachdem er den Abstand von der Tür zu meinem Bett überbrückt hat, auf den Stuhl, auf den schon meine vorherigen Besucher gesessen habe. »Wie geht es dir, Jinseo?«, fragt er mich leise und ich öffne meinen Mund, atme hörbar ein und aus.

»Okay, denke ich«, antworte ich und falte meine Hände ineinander, um sie dann auf meinem Bauch abzulegen. »Bis auf die Tatsache, dass ich Kopfschmerzen von der Platzwunde habe, geht es mir wirklich okay.«

»Es tut uns leid«, entschuldigt er sich in seinen und in den Namen der anderen Jungs, als er seinen Kopf leicht senkt. »Wir hätten dir früher helfen können, hätten wir dich gehört. Es tut uns wirklich sehr leicht.«

»Wieso entschuldigen sich alle für eine Sache, in der sie nicht involviert waren?«, frage ich mich leise selbst und wende meinen Blick an die Decke des Krankenhauszimmers. »Niemand trägt die Schuld für das, was geschehen ist. Der einzige Schuldige ist mein Vater – und es tut mir leid, dass ihr all das mitbekommen musstet.«

»Es muss dir nicht unangenehm sein«, sagt Junmyeon und legt sanft seine Hand auf meine Schulter. »Es ist schließlich nicht so, als hättest du dir so ein Leben ausgesucht. Und dafür musst du dich auch nicht entschuldigen.«

»Das ist lieb von dir… euch… ich – danke, dass ich euch kennenlernen durfte«, bedanke ich mich und lächle gequält. Die Irritation steht Junmyeon ins Gesicht geschrieben. Er kann mir nach diesem Satz nicht mehr folgen. »Nach diesen ereignisreichen Wochen, in denen wir gegenüber voneinander gewohnt haben, werde ich euch sicherlich in Erinnerung bleiben.«

»Worüber redest du, Jinseo?«, fragt er mich, nachdem er einige Minuten geschwiegen hat. »Ich kann dir nicht ganz folgen, aber ich würde gerne verstehen, was die Bedeutung hinter deinen Worten ist.«

»Mach' dir keine Gedanken darüber, Suho«, lächle ich zaghaft und seufze tief, als mir eine Sache wieder in den Sinn kommt. »Hast du 'ne Vorstellung davon, wie merkwürdig es für mich ist, dass ich in letzter Zeit öfters an den Verfasser meines Liebesbriefes denken muss? Ich glaube, dass ich ihn mittlerweile kennengelernt habe. Es hat mich sechs Jahre gekostet.«

»Du hast den Verfasser des Briefes kennengelernt?«, fragt er nach und ich nicke mit einem strahlenden Gesicht. Er lächelt mich an. »Das ist doch gut! Weiß er, dass du das Mädchen bist, das ihm damals den Kopf verdreht hat? Wie ist er so?«

»Vermutlich weiß er es, aber ich weiß es nicht zu hundert Prozent«, antworte ich auf seine erste Frage und lache leicht. »Und leider kann ich nicht sagen, wie er so ist. Dafür kenne ich ihn zu wenig, aber er wirkt auf den ersten Eindruck sehr lieb und freundlich. Ich würde ihn gerne näher kennenlernen.«

»Dann mach' es. Nichts hält dich auf«, antwortet Junmyeon darauf und ich grinse ihn leicht an. »Außer dein Vater steht dir immer noch im Weg herum.«

»Das wird er nicht«, lächle ich sanft und wende meinen Blick ab. »Ich habe ihn wegen Körperverletzung angezeigt.«

Überrascht schaut Junmyeon auf und lächelt dabei sogar noch breiter. »Dann steht dir ab sofort absolut gar nichts mehr im Weg. Du darfst dein Leben endlich so leben, wie du es möchtest«, sagt er und scheint sich wirklich für mich zu freuen.

Lächelnd nicke ich.

Endlich bin ich in meinem Leben da angekommen, wo ich von Anfang an hin wollte.

Ich habe meine Freiheit.

EXO's Annoying NeighbourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt