10. Kapitel

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Konnte mir bitte jemand erklären, warum ich in letzter Zeit so viel weinte? Warum ich, seitdem ich hier war, ein nervliches Wrack war? Oder warum er mir, zum Teufel nochmal, ausgerechnet jetzt so schwer fiel nach außen hin ein normales Leben zu führen, ohne, dass sich ständig jemand Sorgen um mich machte? Warum ich gerade jetzt meine Vergangenheit eine so wichtige Rolle spielen ließ, obwohl ich mir geschworen hatte diese hinter mir zu lassen?

Ich spürte wie mir eine Hand sanft über den Rücken strich. Hörte das vertraute Knarren der Holzbretter meines Bettes, als sich jemand darauf niederlies. Aber er setzte sich nicht neben mich auf das Bett. Er legte sich neben mich. Schlang seine Arme enger um mich, zog mich zu sich, hielt mich in seinen Armen. Versuchte mich auf diese Weise ein bisschen zu beruhigen. Ich spürte die Bewegung seiner Brust als er anfing zu sprechen:

"Hab ich etwas falsch gemacht?" Seine Stimme klang geknickt. Stumm schüttelte ich den Kopf.

"Wirklich?", er schien nicht überzeugt zu sein. Vorsichtig nickte ich und vergrub dabei mein Gesicht in seinem T-Shirt.

"Was ist los?" fragte er schließlich, nach ein paar Minuten Stille. Ich hatte Angst, Angst ihm diese Frage zu beantworten, ihm mehr über mich zu verraten als ich wollte. Aber ich wollte nicht mehr lügen. Was brachte es zu lügen, außer dass ich wieder und wieder in die Vergangenheit katapultiert wurde? Warum nicht einfach einmal bei der Wahrheit bleiben?

Ich holte tief Luft:

"Kennst du das, wenn du verzweifelt versuchst von etwas loszukommen, versuchst es zu vergessen, ohne es weiterzuleben, weil es den Leben nur schwerer macht, aber es sich genau deswegen in allen Verzweigungen, Ecken und kleinsten Nischen deines Gehirns festsetzt, nur damit du es nicht vergisst? Wenn seine Präsens allgegenwärtig ist, egal wie stark du dagegen ankämpfst? Dass es droht Deiner übermächtig zu werden und du dich wie ein Ertrinkender fühlst und in dir die Hoffnung schwindet jemals wieder die Oberfläche zu durchbrechen, jemals wieder Luft zu atmen, die Luft die du so dringend brauchst? Und du nicht weißt ob irgendjemand sieht, dass du ertrinkst und kommt um dich zu retten? Ob es jemanden gibt der in dir Etwas sieht, dass es zu retten wert wäre? 

Ich kenne das. Mein ganzes Leben trieb ich knapp unter der Oberfläche und wartete darauf gerettet zu werden. Ich war oben, ich wurde gerettet und ich werde wieder hinuntergezogen. Und es wird schlimmer, weil ich es schon einmal geschafft hatte, aber ich weiß nicht ob ich es ein zweites Mal schaffen werde. Dieses Es, es ist die Vergangenheit, die allgegenwärtig scheint, die mich wieder droht mich zu verschlingen...."

Ich musste eingeschlafen sein, denn die Sonnenstrahlen kitzelten mich wach. Er war nicht mehr da. Aber das war auch gut so, ich hätte ihm nicht in die Augen sehen können. Was musste er nach diesem Ausbruch von mir halten? Ich hatte echt panische Angst ihn zu sehen, er musste mich für eine komplette Psychopathin halten. Oder zumindest ein total verstörter Freak.

Leise tapste ich in mein Bad und wollte in den Spiegel schauen. Leider bekam ich meine Augen nicht auf, weil sie nach gestern komplett verklebt waren. Vorsichtig rieb ich meine Augen mit warmen Wasser ein und merkte, wie ich meine Augen langsam wieder aufbekam. Ich hätte sie wohl besser zu lassen sollen. Ich sah katastrophal aus. Egal, heute muss ich nicht in die Uni, also zog ich mir bequeme Sachen an und drehte meine Haare in einen messy Bun und schlich leise nach unten.

Vorsichtig lugte ich um die Ecke und sah keine Jacken und Schuhe der Jungs im Vorzimmer stehen. Erleichtert richtete ich mich auf und ging in die Küche. Anne saß am Küchentisch und las Zeitung, aber als sie hörte, dass die Tür aufging sah sie auf und legte die Zeitung beiseite. Sie musterte mich aufmerksam.

"Guten Mittag", sagte sie, "Möchtest du etwas essen?"

Ich starrte sie an. "Wie spät ist es denn?", fragte ich wohl etwas zu verstört, denn sie sah mich besorgt an.

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