Kochende Wut

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Jaime

Am nächsten Tag wachte ich früh auf. Ich hatte schlecht geschlafen. Ständig suchten mich böse Träume über den Friedhof heim und Voldemorts kaltes Lachen hallte viel zu real in meinem Kopf wider. Aber nicht deswegen war ich heute um Vier Uhr morgens schweißgebadet aus dem Bett gefahren. Nein, das Schlimmste war, dass es nicht Voldemort gewesen war, der dem Kessel entstiegen war, der Wurmschwanz gefoltert hatte, der Cedric getötet hatte. Sondern ich.
Seufzend rieb ich mir nun die Schläfen, nachdem ich mehrere Minuten lang zitternd im Bett gesessen hatte, bis ich es endlich geschafft hatte ins Bad zu gehen und mir eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht zu schütten.
Ich bezweifelte, dass ich jetzt noch schlafen konnte. Tatsächlich war ich gerade einfach so aufgewühlt, dass meine Gedanken förmlich Achterbahn fuhren.
Ich schwang meine Beine über das Bett und zog mich leise an und achtete dabei darauf, dass ich die anderen Schüler nicht aufweckte.
Ich entschloss mich in die große Halle zu gehen. Vielleicht steht ja schon Frühstück da.
Hogwarts lag da wie ausgestorben. Nur einige Geister kreuzten meinen Weg, ansonsten begegnete mir niemand. Es war angenehm still. In nur zwei Stunden würde das Schloss erfüllt von Lachen, Stimmen, schwarzen Umhängen und klackernden Schritten sein. Doch jetzt vernahm ich nur das Echo meiner Turnschuhe.
Auf dem Weg in die Halle machte ich am schwarzen Brett halt, was meine Laune prompt verschlechterte.
Dolores Umbrigde ist zur Großinquisitorin von Hogwarts ernannt worden, stand dort in goldenen Lettern.
Gibt es dann auch Kleininquisitoren?, dachte ich zynisch. Gleichzeitig rollte ich über meinen unterirdisch schlechten Witz die Augen.
Ich betrat die Große Halle. Auch sie war vollkommen leer. Auf der magisch verzauberten Decke blitzten bereits erste Sonnenstrahlen und durch die Fenster war die Morgendämmerung erkennbar.
Ich setzte mich an den Tisch der Slytherins und aß lustlos ein Brötchen. Zum Glück hatten die Hauselfen bereits Geschirr und einige Platten mit Essen gedeckt.
Mittlerweile tröpfelten die ersten Schüler herein, die meisten rieben sich noch sichtlich verschlafen die Augen. Andere gähnten herzhaft.
Eine Gruppe von hübschen Slytherin-Mädchen setzte sich nur wenige Plätze entfernt von mir hin und zwei von ihnen lächelten mir herzlich zu.
Normalerweise nahm ich dies immer als Anlass, mich so weit wie möglich von besagten Personen fernzuhalten, aber vielleicht half mir ein kleiner Plausch mich abzulenken ... Im Geiste zuckte ich die Schultern. Dann setzte ich mich zu den Mädchen.
Es war nicht so schlimm wie erwartet. Nun, ich hatte auch tatsächlich nichts erwartet.
Vielleicht sollte ich mich häufiger unter Menschen begeben. Soziale Kontakte knüpfen und so. Irgendetwas Anti-Voldemort ... iges.
War Voldemort auch so gewesen? Äußerlich charmant, liebenswert, ganz der Gentleman? Und im Inneren trotzdem dieser kranke, eiskalte, grausame Psychopath?
Das Grinsen gefror mir auf dem Gesicht. ,,Na, dann ...", würgte ich mühsam hervor, ,,bis bald, man sieht sich." Ich hob die Hand zum Gruß und stand etwas zu hastig auf. Kaum, dass ich mit dem Rücken zu ihnen stand, wurde meine Miene ausdrückslos. Mit schnellen Schritten verließ ich die Halle.

Finster funkelte ich einen kleinen Hufflepuff an, der soeben meinen Weg durch die mittlerweile überfüllten Flure gekreuzt hatte, weswegen ich gezwungen war, stehen zu bleiben. Der Knirps schluckte ängstlich und eilte mit geröteten Wangen un die entgegengesetzte Richtung.
Ich mache anderen Kindern Angst.
Diese Worte hatte ich bereits im Sommer gehört, als Allana bei mir im Waisenhaus gewesen war. Alles hier erinnerte mich gerade zutiefst an Voldemort.
So langsam erreichte meine Laune ihren absoluten Tiefpunkt.
Jemand knallte mit der Schulter gegen meine Brust. ,,Pass gefälligst auf!", fauchte ich.
,,Stell dich nicht so an, es war nur aus Versehen!", rief Harry Potter barsch zurück und rieb sich die Schulter. Seine grünen Augen funkelten mich durch die Brille hindurch genervt an. Er schien wie ich ziemlich schlechte Laune zu haben. Wahrscheinlich hatte auch er gerade von Umbrigdes Ernennung zur Großinquisitorin gelesen. Oder es war einfach nur seine gewöhnliche Reaktion auf mich.
Es war mir ziemlich egal. Ich war wütend. Ich musste mich irgendwie abreagieren. Und Harry Potter stand vor mir.
Ich ging einige Schritte auf ihn zu, bis ich genau vor ihm stand. Mir war bisher gar nicht aufgefallen, dass ich größer als er war, aber ich erkannte, dass er den Kopf ein wenig zurücklegen musste, um Blickkontakt zu halten.
Ich sah ihn über meine Nasenspitze hinweg herablassend an. Der perfekte Blick eines Slytherin.
Er erwiederte mein Starren trotzig, ohne zu Blinzeln.
,,Entschuldige dich, Potter", meinte ich.
Harrys Antwort war eine Mischung aus Schnauben und Lachen. ,,Vergiss es, Gaunt."
Etwas anderes hatte ich nicht erwartet. Meine Lippen hoben sich.
Eine kleine Traube aus Schülern hatte sich nun um uns gebildet, die meisten davon aus Gryffindor. Ich erkannte jedoch auch einige Slytherins und Ravenclaws.
Harrys Hände waren zu Fäusten geballt. Und seine eine Hand ... Meine Augen weiteten sich leicht. Ich soll keine Lügen erzählen, stand da in roter Schrift. Nein, keine Schrift. Blut. Die Wunde schien noch ziemlich frisch zu sein, es hatte sich noch kein Schorf gebildet. Die Haut darum war rot und geschwollen.
Ich brachte meine Lippen etwas näher an Harrys Ohr, sodass nur er meine Worte vernehmen konnte. Den Blick hatte ich weiterhin auf seine Hand gerichtet. ,,Oh, Potter, warst du etwa ein böser Junge? Hat dir deine liebe Mami nicht beigebracht, keine Lügen zu erzählen?" Ich schwieg für einen Moment. ,,Ach, warte ... sie ist ja tot."
Harrys Knöchel verfärbten sich weiß. Im nächsten Moment traf mich ein Faustschlag am Kinn. Ich stolperte zurück und bewegte vorsichtig den Kiefer hin und her. ,,Potter, du hast mir gerade den Kiefer ausgerenkt."
Harry stand vor mir, seine Augen glänzten fiebrig. ,,Du hast keine Ahnung, worüber du sprichst!"
Ich lächelte bitter, obwohl sich dadurch nur neue Schmerzen anbahnten. ,,Oh, glaub mir, mit enttäuschenden Eltern kenne ich mich aus, nur das mit dem Tod ist komplizierter als es scheint."
Harry blinzelte. Eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Er schien nicht mehr wütend zu sein. Vielmehr ... überlegend. Taktierend.
Ich ließ mir meine eben gesagten Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Verdammt, das konnte nur Harrys Theorie über mich als den Sohn bestärken! Wie konnte ich nur so unvorsichtig gewesen sein! Ich biss die Zähne zusammen und ignorierte das Stechen in meinem Kiefer.
Nun trat Harry einen Schritt näher an mich heran. ,,Entschuldigung", meinte er ernst. Dann erschien ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht. ,, ... und Danke."
Ich war sprachlos. Wie konnte mir nur so etwas Wichtiges herausgerutscht sein?!
Jetzt hatte ich Harry womöglich noch zu neuen Informationen geholfen ...
In meinem Kopf brodelte eine Gewitterwolke. Am liebsten würde ich Potter jetzt einfach dieses siegreiche Grinsen aus dem Gesicht schlagen ...
Ich entschied, dass es das durchaus wert war. Mein Faustschlag traf Harry genau auf der Nase und zerdellte seine Brille. Der Draht des Gestells bohrte sich äußerst schmerzhaft in meine Haut. Harry hielt sich die Nase, von der ich wirklich, wirklich hoffte, dass sie gebrochen war. Dann hat sich diese im Nachhinein unfassbar dumme Aktion wenigstens ein bisschen gelohnt. 
Harry trat mir in die Nierengegend. Ich klappte zusammen, schaffte es jedoch trotzdem noch, ihm ein Bein zu stellen, sodass er der Länge nach zu Boden fiel.
Das nächste, was ich wahrnahm, war, wie mehrere Schüler versuchten, uns voneinander wegzuziehen.
Irgendjemand rief, man solle doch gefälligst einen Lehrer rufen.
,,Was ist hier los?", rief eine hohe, viel zu mädchenhafte Stimme. Im nächsten Augenblick kam die pummelige, in Pink gekleidete, klackernde Stöckelschuhe tragende Dolores Umbrigde auf uns zugewatschelt.
,,Eine Prügelei", erklärte ein Sechstklässler der Ravenclaws geflissentlich. Umbrigdes Lächeln blieb. Es erreichte ihre Augen jedoch nicht. Sie drehte sich zu mir. ,,Wie ist Ihr Name?", fragte sie zuckersüß.
,,Jaime Gaunt", meinte ich ausdruckslos.
,,Nun, Mister Gaunt, warum haben Sie sich mit Mister Potter geprügelt?"
Ich zuckte die Schultern. ,,Eine Meinungsverschiedenheit, bei der unglücklicherweise die Emotionen hochgekocht sind", log ich. ,,Es wird nicht wieder vorkommen."
Umbrigde lächelte nur noch breiter. ,,Da bin ich mir sicher", zwitscherte sie. ,,Jetzt gehen Sie beide bitte in den Krankenflügel. Und heute Abend werden Sie beide Nachsitzen. Schließlich muss Ihnen beigebracht werden, keine Lügen zu erzählen."
Ich merkte, wie beinahe sämtliche Farbe meine Wangen verließ.

Seine Erben (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt