Auf der Spur

2.1K 205 7
                                    


Jaime

Oh nein. Es geht wieder los. Seufzend und mitunter fluchend quetschte ich mich durch die Masse an begeisterten Quidditch-Fans, welche die Große Halle in ein farbenfrohes, kunterbuntes Meer aus Umhängen, Schals und Mützen verwandelte.
Heute stand das Spiel Gryffindor gegen Slytherin an - oder zumindest war dies meine Vermutung, da eine scharlachrote Wand aus Schülern einem vergleichsweise geringen Anteil an grüngekleideten Slytherins gegenüberstand. Und dabei sind wir doch so liebenswerte Leute.
Am Tisch der Gryffindors nickte ich meiner Schwester kurz ermutigend zu und musste dann die Stirn runzeln, denn Hermine und Harry schienen offenbar flüsternd miteinander zu streiten. Hermine hatte die Hände vor der Brust verschränkt und Harry hob abwehrend die Arme, schien jedoch ein Schmunzeln unterdrücken zu müssen. Ein paar Plätze weiter saß Weasley und grinste über beide Ohren. Seltsam.
Ich schob einen kleinen Jungen mit einem übergroßen roten Hut grob aus dem Weg und setzte mich zwischen Nott und Zabini. Und das war ebenfalls ungewöhnlich. Die Falten in meiner Stirn vertieften sich. ,,Wo ist denn Draco?", fragte ich die beiden. Nott zuckte die Schultern und spielte mit seinem Brotmesser herum.
,,Er meint, es ginge ihm nicht gut und er würde deshalb heute ausfallen."
,,Ah", antwortete ich darauf knapp. Gut, das klang eigentlich ganz plausibel.
Trotzdem war es gleichzeitig auch verdächtig, dass Draco heute fehlte. Gestern war er für einige Sekunden von der Karte der Rumtreiber verschwunden und heute kam er nicht einmal zum Spiel, als wäre es nur nebensächlich ... Irgendetwas war hier faul.
Ich raufte mir die Haare. Oder ich begann nur ungewöhnlich paranoid zu werden. Die Karte hatte eine Fehlfunktion gehabt und Draco hing gerade kotzend auf der Toilette - es gab jedenfalls wichtigere Dinge, die meiner Aufmerksamkeit bedurften. Zum Beispiel Slughorn. Und Harry. Und ganz besonders Dumbledore.
Und doch ... Ich machte mir Sorgen um meinen besten Freund. Er steckte in einer scheinbar ausweglosen Situation und ich wusste nicht, wozu er in seiner Verzweiflung und seiner Angst in der Lage war. Ich seufzte und stand vom Tisch auf. Nott und Zabini blickten mich erstaunt an.
,,Wisst ihr, wo Draco gerade steckt?"
,,Ähm ... also er war vorhin noch im Gemeinschaftsraum", nuschelte Blaise mit vollen Mund und genehmigte sich ein Stück Rührei.
,,Gut."
Und wo waren eigentlich Crabbe und Goyle? Es war schon ein wenig seltsam, dass seine beiden Kumpane nun immerzu bei ihm waren und nicht mehr Allana oder ich. Und warum hatte er uns nicht Bescheid gegeben, wenn es ihm doch offensichtlich nicht gut ging?
Ich knirschte mit den Zähnen. Draco konnte was erleben, wenn er nicht krank im Bett lag. Wenn wir schon zustimmen, dass wir ihn gegen Dumbledore unterstützen würden, hatte er sich gefälligst an unsere Abmachung zu halten!
,,Bis später", verabschiedete ich mich knapp von meinen Klassenkameraden und rauschte aus der Halle.

Ich erreichte den Gemeinschaftsraum der Slytherins und trat durch die Öffnung in der Wand. Auf dem ersten Blick schien er vollkommen leer zu sein, was nicht weiter verwunderlich war, besuchten doch gerade alle Schüler das langersehnte Quidditch-Spiel zwischen den ewigen Rivalen Gryffindor und Slytherin. ,,Draco? Draco, bist du da?"
Ich ging in unseren Schlafsaal und untersuchte die Betten und das Bad. Doch dort war er nicht. ,,Toll, wirklich ganz toll", fluchte ich und schlug wütend gegen den Bettpfosten. Draco war es scheinbar noch immer nicht klar geworden, dass er nicht, wenn er als krank galt, im Schloss herumlaufen sollte. Und zwar vor allem nicht, wenn auf Hogwarts seit Anfang des Schuljahres erhöhte Sicherheitsmaßnahmen galten, weil Voldemort zurück war und Draco obendrein einer seiner verdammten Todesser war!
Heftig schnaubend ließ ich mich auf mein ungemachtes Bett fallen. Wo konnte Draco stecken? Arbeitete er eventuell an einem weiteren Plan, um Dumbledore zu töten? Ein dunkler Fluch, ein verwunschenes Objekt, ein vergifteter Trank? Verzweifelte er womöglich gerade an seiner unmöglichen Aufgabe oder halfen Crabbe und Goyle ihm, seinen Plan umzusetzen? Und wenn ja, wo? Mein erster Gedanke war tatsächlich das Klo der maulenden Myrte, denn da würde ich niemals freiwillig hingehen. Außer natürlich, ich musste dringend in die Kammer des Schreckens gelangen ...
Wo könnte er noch sein? Meine Gedanken wanderten zurück an den Tag, an dem Draco plötzlich von der Karte der Rumtreiber verschwunden war ... Ich hatte es für eine Fehlfunktion gehalten, aber was, wenn Draco tatsächlich einen Ort gefunden hatte, an dem sogar Harry Potter ihn nicht finden konnte ...
Ein Versuch war es wert. Ich verließ den Gemeinschaftsraum der Slytherins und stieg die Treppen vom Kerker nach oben.

An der geheimnisvollen Wand im Korridor angekommen, verfluchte ich still meine eigene Dummheit. ,,Der Raum der Wünsche. Draco ist im Raum der Wünsche", murmelte ich wie betäubt. Warum hatte ich nicht gleich daran gedacht?! Nur eine Handvoll Schüler wussten über diesen Raum Bescheid ... und unser Onkel war scheinbar keiner von ihnen gewesen. Dieser Raum war perfekt! Perfekt für- Ja, perfekt für was eigentlich? Der Raum konnte jede Gestalt annehmen, die man begehrte. Von einer Bücherei, über eine Toilette, bis hin zu einem geheimen Übungsplatz für rebellierende Schüler. Er war ein brilliantes Versteck, voller Magie, bereit jeden Wunsch zu erfüllen, den man nur haben konnte. Zu was brauchte Draco also diesen Raum? War es nur ein günstiges Versteck, um Harrys neugierigen Augen zu entfliehen oder war da mehr? Draco standen in diesem Raum nahezu alle Möglichkeiten offen ... der magische Ort würde seinen Wünschen nur allzu gerne Folge leisten ... Aber was war Dracos Wunsch? Was war sein Plan?!
Hinter mir ertönte ein gedämpftes Quieken und ein Gegenstand fiel klappernd zu Boden. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen stand dort, die nun leeren Hände zitternd vor sich ausgestreckt. Es blickte außerordentlich grimmig drein.
,,Erwarte bloß nicht, dass ich dein komisches Gerät aufhebe", meinte ich schnaubend und gab dem demolierten Gegenstand einen leichten Tritt.
Das Mädchen rührte sich nicht, sondern hatte die Augenbrauen weiterhin zusammengekniffen und ein stummer Vorwurf lag in seinen Augen. Das war merkwürdig. Normalerweise verhielten sich kleine Kinder mir gegenüber nicht so. Sie waren ehrerbietiger, schüchterner, vielleicht sogar ein wenig ängstlich. Dieses Mädchen jedoch hatte so einen verkniffenen und mürrischen Gesichtsausdruck, als hätte man es mit der schlimmst möglichen Aufgabe betraut. Einer demütigenden Aufgabe, die es nur mit größten Widerwillen befolgte ...
Ich kniete mich zu dem Mädchen, sodass sich unsere Augen auf gleicher Höhe befanden. ,,Hast du einen Namen, Kleines?" Ich betonte das letzte Wort und merkte, wie das Mädchen den Kiefer anspannte. Sein Blick wurde noch finsterer.
Ich verkniff mir ein Kichern.
,,Ja", grummelte es knapp, wobei seine Stimme ungewöhnlich tief klang.
,,Ach. Und wie lautet dein Name?"
Die kleine Schülerin brauchte außerordentlich lange, um diese Frage zu beantworten. Ständig bewegte sie stumm die Lippen und ihre Augen blickten dumpf nach vorne. Endlich schien sie zu einer Entscheidung zu kommen. ,,Mein Name ist ... Greg ... Gre ... Greta. Mein Haus ist Ravenclaw."
Ich lachte laut auf. ,,Meine Güte, so viel hast du in den letzten fünf Jahren nicht gesprochen! Und du hast sogar eine Anapher verwendet!" Goyle ... oder Crabbe ... wer auch immer blinzelte mich verwirrt an und wiederholte stumm den Begriff Anapher.
Ich schob das kleine Mädchen mit mir zur Treppe. ,,Hier hast du auch dein unheimlich nervtötendes, klapperndes Gerät wieder ..." Ich drückte dem Mädchen sein Utensil in die Hand, womit es einen Moment lang, offenbar überfordert, hantierte.
,,Und wenn Draco aus seinem nicht ganz mehr so geheimen Geheimversteck kommt, sag ihm, dass ich einige Fragen an ihn habe. Und dass ich ganz und gar nicht erfreut bin."

Solchermaßen zufrieden gestellt ging ich die Treppen wieder nach unten.
Das Spiel schien außerdem vorbei zu sein, denn die Flure waren mit jubelnden Gryffindors gefüllt. Ich rollte die Augen und entschied mich, einen kleinen Umweg zu nehmen. Auf selbstgefällige Gryffindors konnte ich getrost verzichten.
Ich schritt im zügigen Tempo durch die leider nur semiverlassenen Flure - viele Pärchen hatten sich tatsächlich in diesen Bereich des Schlosses zurückgezogen und gingen hier partnerschaftlichen Aktivitäten nach, von denen ich lieber nicht Zeuge sein wollte. Glücklicherweise vernahm ich die typischen Anzeichen - hauptsächlich dämliches Kichern und schlabbernde Kussgeräusche - schon aus einigen Metern Entfernung und konnte so immer schnell in einen anderen Korridor ausweichen.
Ich bog gerade in einen weiteren Flur ein, als ich plötzlich ein Geräusch vernahm, das mich kurzzeitig aufhorchen ließ: Schluchzen. Jemand weinte. Ein Mädchen.
Eigentlich sollte ich jetzt sofort den Ruckzug antreten, aber etwas hinderte mich daran. Vielleicht, weil etwas Vertrautes in diesem Weinen lag.
Ich bog um die Ecke und dann sah ich sie: Sie saß auf einer der Treppenstufen, die Haare zerzaust und ihre Brust hob und senkte sich schnell. Tränen rannen ununterbrochen über ihr Gesicht und ihre Augen waren gerötet.
Ich fühlte mich mit einem Mal an den Tag des Weihnachtsballs im vierten Schuljahr zurückerinnert. Zögerlich trat ich näher. ,,Hermine, was ist passiert?"

Seine Erben (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt