Fremde Gedanken

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Jaime

Hermine sprach wieder mit mir! Seit schon zwei Tagen begegnete sie mir nicht mehr mit eisigen Schweigen, sondern begrüßte mich sogar! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Woher kam dieser plötzliche Stimmungsumschwung ihrerseits? Sie war eine der stursten Menschen, die ich kannte! Diese Frage stellte ich ihr vorsichtig in Zaubertränke und rutschte gleichzeitig einige Zentimeter von ihr weg. Nur weil ihre Wut offenbar verflogen war, bedeutete dies nicht, dass ich sie bei einem "äußerst anspruchsvollen" Trank zu stören durfte, wie sie mir schon mehrmals eingebläut hatte.
Auf die Frage warf sie mir einen genervten Blick zu und deutete wortlos auf ihren Trank. Schlau wie ich nunmal war, hatte ich mir jedoch bereits die Anleitung gemerkt und wusste bei welchem Punkt der Zubereitung sie gerade war. ,,Der Trank muss drei Minuten köcheln und du musst nur einmal pro Minute umrühren. Du hast also Zeit meine Frage zu beantworten." Ich hob eine Braue. ,,Nun? Was hat diesen rapiden Wandel deiner Einstellung mir gegenüber verursacht?"
Hermine zuckte die Schultern und zwirbelte an einer Strähne ihres Haares. ,,Ich habe erkannt, dass mein Verhalten dir gegenüber offenbar nicht vollkommen ... gerechtfertigt war. Deshalb habe ich beschlossen, dir vorerst eine zweite Chance zu geben."
Und wehe du verbockst es, schwang nonverbal in ihrem Tonfall mit.
,,Das habe ich nicht vor."
Hermine blinzelte. ,,Wie Bitte?"
,,Ach, nichts", meinte ich eilig, ,,ich bin nur froh, dass du dich wieder dazu herablässt mit mir zu sprechen."
Täuschte ich mich oder färbten sich Hermines Wangen tatsächlich leicht rot?
Ich versteckte mein Grinsen hinter dem dicken Zaubertrankbuch und tat so, als würde ich noch einmal die Schrittfolge der Anleitung überfliegen.
Ach, Apropos ... Ich sah auf meine Uhr. ,,Eine Minute und Sechs, eine Minute und Sieben, eine Min-"
,,Ich hasse dich!", rief Hermine und schnappte sich hastig den großen hölzernen Löffel und begann ihn fieberhaft in die blubbernde Masse des Kessels zu tauchen. ,,Jaime, der Trank wird blau. Und dickflüssig ... Das ist alles deine Schuld, hast du Snape nicht zugehört? ... exakt einmal pro Minute, hat er gesagt und jetzt sind es schon Siebeneinhalb Sekunden über der angegebenen Zeit ... nur wegen dir kriege ich jetzt bestimmt kein Ohnegleichen mehr auf dem Zeugnis ..." Ich lehnte mich entspannt zurück und genoss ihren Anblick. Ich hatte sie wirklich vermisst.

Auch noch am Abend war ich allerbester Laune, die nicht einmal der Unterricht bei Umbrigde in der nächsten Doppelstunde trüben gekonnt hatte.
Im Gemeintschaftsraum der Slytherins spielten Draco und Theo Nott eine Partie Schach. Beide blickten auf, als ich meine Schultasche neben das Bett warf.
,,Hi, Jaime", murmelte Draco, dessen Stirn in Falten lag und angestrengt auf das Brett stierte.
,,Hallo, Allerseits", meinte ich munter und schubste Blaise von meinem Bett, der von dort die Schachpartie beobachtet hatte. Er grummelte etwas und setzte sich neben Draco.
Dann verschwand ich kurz im Bad und zog meinen Schlafanzug an. Als ich kurze Zeit später im Schlafanzug hinaustrat, waren die Jungen bereits in ihren Betten.
,,Mach endlich das Licht aus", motzte Nott und bewarf mich mit einem seiner Socken.
Ich drückte auf den Aus-Schalter der Lampe und kuschelte mich tief in die Decke. Dann schloss ich die Augen.

Es war merkwürdig. Wirklich merkwürdig.
Ich wusste zwar, dass ich schlief, aber ein kleiner Teil von mir schien davon keine Notiz zu nehmen.
In meinem Traum öffnete ich die Augen. Oder waren meine Augen tatsächlich geöffnet, ich wusste es nur nicht?
Jedenfalls ... Ich schien etwas sehen zu können. Schemen. Schatten. Umrisse des Schlafsaals.
Oder sah ich es nur, weil ich erwartete dies alles zu sehen?
Mehrere Sekunden lang zerbrach ich mir den Kopf über diese Frage, kam aber zu keinen zufriedenstellenden Ergebnis.
Stattdessen tastete ich mich langsam vorwärts. Obwohl ... tasten schien das falsche Wort zu sein. Meine Füße schienen den Boden nicht zu berühren, tatsächlich schien ich weder Füße noch Körper zu besitzen. Ich war körperlos, wie ein Geist. Nein, korrigierte ich mich. Geister besaßen Formen. Ich nicht. Ich war nicht einmal ein Geist, nur ein ... Gedanke.
Ein Gedanke genügte und ich spürte wie ich durch die dunklen Gänge glitt, geführt von einem weiteren Gedanken. Aber ich wusste nicht, was es war. Ein Instinkt, ein Sog, ein Drang, etwas von all dem und doch etwas vollkommen Anderes.
Ich bewegte mich weiter und spürte auf einmal weitere vertraute Geister um mich herum. Mit diesem Begriff meinte ich nicht das Synonym für ein Gespenst, sondern Auren, Seelen. Gedanken. Einige waren mir vertrauter als andere, die ziellos in einer dunklen Masse verschmolzen. Zwei von jenen vertrauteren Auren stachen besonders hervor. Ich beobachtete sie etwas genauer uns streckte einen unsichtbaren Fühler aus, um diese zu berühren. Als ich meine Gedanken nach der ersten Aura ausstreckte, wurde ich prompt zurückgeworfen. Es war, als würde mich eine Wand blockieren. Ich wich zurück und tastete nach der nächsten Aura. Hier stieß ich auf keine Mauer, sondern wurde geradewegs in den Geist, in die Gedanken der Aura gezogen.
Eine Schlange zischelte. Ich hörte sie. Aber von wo kam sie? Blut. Ich schmeckte Blut auf meiner Zunge. Aber wer war ich? Ich spürte kalten Parkettboden unter meinen Füßen und blinzelte gegen die Dunkelheit an. Aber wo war ich?
In meiner Verwirrung versuchte ich die Gedanken der Aura zu verlassen, aber tausende Bilder, Emotionen und Geräusche und Gedanken, die nicht alle die meinen waren, wirbelten nun chaotisch in meinem Kopf herum.  Blut ... Freude ... Ekel ... rotes Haar ... noch mehr Blut ... Fassungslosigkeit ... es war Mr Weasley, Rons Dad! ... ein Zischen ... Triumph ... Schmerzen, die Narbe brennt.
Welche Gedanken waren die meinen?  Welche gehörten Harry, welche der Schlange, welche zu Mr Weasley? Ich konnte nicht zwischen ihnen unterscheiden, denn sie alle wirbelten wimmernd, schreiend, zischend, dröhnend, lachend, schluchzend, brüllend, heulend, sich gegenseitig übertönend in meinem Kopf herum.
In meiner Panik klammerte ich mich an die andere Aura, welche nun die einzige Konstante, der einzige Schutz vor diesem Wirrwarr aus tausenden umherwirbelnden Empfindungen zu sein schien.
Ich stemmte mich gegen die unsichtbare Mauer, die ihren Geist verschloss. Allana, bitte lass mich ein, flehte ich.

Allana

Ich fuhr schlagartig aus dem Bett und riss die Augen auf.
Bilder wirbelten in meinem Kopf umher, Schatten, Schemen. Und mitten in all dem: Allana, bitte lass mich ein. Die Stimme meines Bruders.
Etwas in mir gab diesem Drang nach und die unsichtbaren Mauern meines Geistes senkten sich für einen Moment, lang genug, dass tausende Empfindungen meinen Kopf durchfluteten.
Ich spürte wie Jaime endlich im Schlafsaal der Slytherins erwachte, schweißgebadet. Ich spürte Harry, der sich die Decke vom Leib strampelte, die Hände auf die glühende Narbe auf seiner Stirn gepresst. Ich spürte Naginis Genugtuung, während sie sich behaglich davonschlängelte, das bitter schmeckende Blut genießend. Und ich spürte Arthur Weasley, der sich zitternd die Hände auf den Bauch presste, verzweifelt versuchte den Blutverlust zu begrenzen und gleichzeitig nicht in Ohnmacht zu fallen.
Ich spürte jede einzelne Emotion, sah jedes Bild, nahm alle Sinneseindrücke wahr. Einfach Alles. Es war furchteinflößend, beängstigend, aber andererseits auch belebend. All das, was ich wahrnahm, war so klar und so deutlich, als wäre ich bei den Geschehnissen anwesend. Als wäre ich gleichzeitig Mr Weasley, Nagini, Harry und Jaime. Meine Sinne schienen geschärft und aktiver zu sein als je zuvor. Auf eine gewisse Art und Weise war dies auch ein wahrhaft faszinierendes Gefühl!

Nur ein Zimmer weiter hörte ich Harry schreien.

Seine Erben (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt