Der Fremde in dir

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Guess who's back :)

Jaime

Eine schwarze Flut brach über mich herein, riss meine Welt aus den Angeln, stülpte mein Innerstes nach Außen, ertränkte mein Ich in dem dunklen Sog.
Als würde Tag zu Nacht, als wäre ich geradewegs in den dunken Abgrund, in den bodenlosen Schlund getreten.
Plötzlich war da kein Jaime Gaunt mehr. An seiner Stelle befand sich dieser Fremde.
Jonathan James Riddle.
Der Todesser. Der Sohn von Voldemort.
Und alle Hoffnung war verloren - nein, nicht Hoffnung, die hatte ich bereits bei Voldemorts Eintreffen verloren - mein ganzes Selbst war verloren, als ich auf das Dunkle Mal auf meinem Unterarm starrte.
Als würde ich nach einer langen Operation erwachen und mich nicht im Spiegel erkennen.
Es gehörte da nicht hin. Es war fremd und unnatürlich, ein grauenhaftes Makel.
Und jetzt würde es auf ewig ein Teil von mir sein.
Was ich fühlte, stärker noch als diese Fremde, die Verzweiflung, war Hilflosigkeit. Dieses lähmende Gefühl der Ohnmacht, die beißende Gewissheit, dass ich nicht in der Lage gewesen war, Irgendetwas zu tun. Es war tausendmal schlimmer gewesen als bloße Passivität. Es war Auslieferung.
Und nun ist da eine fremde Person an meiner Stelle. Eine Person, die anders aussieht, die einen anderen Namen trägt, die eine andere Herkunft hat, die nicht mehr Ich ist.
Vollkommener Identitätsverlust.
Und jetzt wo ich quälend langsam die Augen von dem Makel auf meinen Arm löste, mich umsah ... Die Blicke, die mir nun zugeworfen wurden, hatte Jaime Gaunt nicht gekannt.
Fremde nicht nur in mir, sondern auch um mich herum.
Ich sah weit aufgerissene Augen, bleiche Gesichter, ich sah Tränen, geballte Fäuste, zusammengebissene Zähne, giftige Blicke, Zorn, Verachtung, Mitleid, Panik, Schock, Hermine.
Ich blinzelte hastig und wandte den Blick von dieser Masse an undefinierbaren Köpfen und diesem einen vertrauten Gesicht ab.
Mein ganzer Körper fühlte sich taub an. Der Schock hatte meine Gedanken eingefroren, da war nur ein vages Pochen, als würden sie versuchen sich durch diese Schicht zu graben, mich aufzuwecken.
Aber das hier war ein Albtraum, aus dem ich nicht erwachen konnte. Es waren meine schlimmsten Befürchtungen, die zur grausigen Realität geworden waren.
Die Realität ist schlimmer als jeder Traum.
Das Dunkle Mal und die damit verbundene Wahrheit über meine Identität hatten mein Leben ins Chaos gestürzt und jetzt war ich hier, kopfüber unter Wasser hängend, orientierungslos.
Ich blinzelte verwirrt, denn ein Schatten legte sich plötzlich über mich und so blickte ich auf.
Voldemort hatte sich zu mir nach unten gebeugt und seine klauenähnliche Hand lag ein wenig stützend an meinem Nacken und zog mich nun näher zu ihm. ,,Du solltest deine nächsten Entscheidungen weise wählen", zischte er leise in mein Ohr. Ich starrte blicklos geradeaus.
,,Dein Leben kann davon abhängen."
Bei diesen Worten lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Denn ich hatte keine geistreiche Antwort parat, keinen Plan, was ich darauf sagen sollte. Die Situation hatte sich komplett verändert und all meine Strategien waren wirkungslos geworden. Ich konnte all das, was geschehen war, einfach nicht mehr aufnehmen.
Geschehnisse und Eindrücke prasselten ungefiltert auf mich ein und raubten mir jede Form des Denkens.
Totaler Schock.
Zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich nicht, was ich tun sollte.  
Und Voldemort erhob sich wieder, seine Hand verharrte dabei kurz auf meiner Schulter. ,,Albus Dumbledore ist tot", meinte er genüsslich zu den wie versteinerten Schülern. Seine Stimme hallte durch die Große Halle und in jeden einzelnen Winkel. ,,Und das Ministerium wird fallen. Es wird Zeit, dass jeder hier seine Loyalitäten überprüft ... Es wäre ungünstig, bei der Machtübernahme Lord Voldemorts auf der falschen Seite zu stehen."
Bellatrix kicherte hörbar bei diesen Worten.
Voldemort blickte die Schüler aus seinen roten Augen an. Sein taktierender Blick schien sich in jeden einzelnen von ihnen zu bohren. Ein kleiner Junge begann leise zu wimmern.
Voldemort machte unendlich gelassen einen einzigen Schritt nach vorne. Sofort begann die Masse an Schülern zurückzuweichen.
Seine Todesser flankierten ihren Meister und drängten die Schüler so weiter zurück.
Bei diesem Prozedere war keine Magie nötig, kein Fluch oder Zauber. Sondern es war schlicht und einfach diese düstere und bedrohliche Ausstrahlung, diese Macht, die förmlich um Voldemort herum zu knistern schien. Und dann war da auch dieses Wissen, dass nach Dumbledores Tod Voldemort der mächtigste Magier Großbritanniens war.
Warum kämpfen, wenn alle Hoffnung bereits verloren war?
Die jungen Zauberer wichen so weit wie möglich zurück, einige pressten sich voller Angst gegen die steinernen Mauern des Saals. Die Mauern, die immer ein Zeichen des Schutzes gewesen waren, aber nun das Böse schlechthin nicht aufgehalten hatten.
Hogwarts war kein Ort des Schutzes mehr. Es war geschändet, besudelt, genau wie die unzähligen Artefakte, die durch schwarze Magie zu Horkruxen geworden waren.
Ich blickte auf meinen Arm hinab und unterdrückte ein Schluchzen. Tränen brannten in meinen Augen.
Genau wie ich.
Mittlerweile hatte sich ein Korridor in der Menschenmenge gebildet. Er wurde breiter und breiter, als man sich verzweifelt bemühte, so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und dem dunkelsten Magier Großbritanniens zu bringen. Es gab ein wenig Gedränge, denn keiner wollte in der ersten Reihe stehen, keiner schutzlos den roten Augen ausgeliefert sein.
Voldemort schritt gemächlich über den steinernen Boden wie ein Herrscher durch sein Königreich - und genauso neigten die anwesenden Schüler demütig die Köpfe.
Schließlich erreichte die Gruppe von Schwarzmagiern das mächtige Eingangstor, dessen Flügeltüren sich wie von Geisterhand öffneten. Als hätte Hogwarts selbst sich seine Niederlage eingestanden und kapituliert.
Ich sah wie der Umhang von Voldemort förmlich mit der Dunkelheit verschmolz, zu einem Schatten wurde, kaum mehr wahrnehmbar ... Dann, einige Sekunden später, in der jede Person den Atem anzuhalten schien, vernahm ich einen gedämpften Knall.
Sie sind disappariert.
Ein Teil von mir wollte aufseufzen, aber das konnte ich nicht.
Das hier war keine Erleichterung.
Vor Tagen wäre es mir vermutlich noch so vorgekommen, aber nun ... Das Dunkle Mal brannte unangenehm.
Ich wusste nicht mehr, was ich denken, hoffen, fühlen sollte.
Aber eines war sicher: Ich durfte hier unter keinen Umständen bleiben.
Ich packte den Zauberstab mit tauben und rappelte mich keuchend auf. Meine Gelenke bewegten sich scheinbar in Zeitlupe und da war Blut, das an meiner Schläfe hinabrann.
Mein Körper schien noch nicht vollkommen realisiert zu haben, was gerade geschehen war. Meine Augen sahen zwar Bilder, doch konnten sie nicht zuordnen. Da waren Münder, die sich bewegten, doch ich konnte nichts hören. Und da waren zweifellos heftige Wunden auf meiner Haut, doch sie pochten nur dumpf. Ein Piepton vibrierte in meinen Ohren wieder.
Ich atmete tief ein. Sammelte meine letzten Kraftreserven und setzte mich in Bewegung.
Und dann rannte ich.
Vorbei an den Schülern, die noch immer vor Furcht wie erstarrt waren, die es nicht wagten, mich anzugreifen, die mich jedoch anstarrten, tuschelnd, wispernd.
Ich erreichte das Eingangstor und hetzte stolpernd in die Dunkelheit.
Ich musste mich weit genug vom Schloss entfernen, dass ich irgendwie apparieren konnte.
,,Jaime!", hörte ich einen gedämpften Schrei und beschleunigte meine Schritte.
Hermine.
Sie durfte mir nicht folgen, sie würde versuchen mich aufzuhalten, beruhigend auf mich einzureden, mich von meinem Vorhaben abzubringen.
Aber ich hatte keine Wahl. Nicht mehr.
,,Jaime, bleib sofort stehen!"
Endlich hatte ich das Ende der Ländereien erreicht. Der Verbotene Wald ragte bedrohlich vor mir auf, wie ein finsteres schwarzes Loch.
,,Ich kann dir helfen!"
Ich schloss kurz die Augen.
,,Jaime ..."
Ich wirbelte herum. Plötzlich war da ein Moment vollkommener Klarheit. ,,Sei nicht so naiv, Hermine!", explodierte ich. ,,Die gesamte Welt der Zauberer wird hinter mir her sein, was willst du schon dagegen tun?!"
Ich trat rückwarts langsam weiter zurück und behielt Hermine dabei fest im Blick.
Ich konnte Tränenspuren auf ihrer Wange erkennen. Ihre Unterlippe zitterte. Sie streckte die Hand aus, als wollte sie mich berühren, aber ich war zu weit entfernt.
,,Bitte ... ich kann dir helfen ..."
Vor meinem inneren Auge entstand eine ähnliche Szene, damals war es Allana anstatt Hermine gewesen. Und ich war derjenige gewesen, der sie um Hilfe angefleht hatte, in dieser klaren Phase, wo der Imperius-Fluch von Crouch Jr etwas abgeklungen war.
Der Fluch hatte mir damals jede Wahlmöglichkeit genommen. Und auch jetzt haftete dieser Zwang an mir, der jedoch nichts mit einem Zauber zu tun hatte.
Allana hatte mich damals nicht retten können. Genau so wie nun Hermine.
,,Nein, kannst du nicht", flüsterte ich.
Dann nahm ich all meine Konzentration zusammen, all meine Willenskraft ...
Und disapparierte.

Allana

Er ist weg.
Oh, Merlin ... mein Bruder ist fort.
Ich rollte mich auf dem kalten Boden zu einem Ball zusammen, winkelte die Knie an und presste die Hände vor mein Gesicht.
Und ich weinte.

Glaubt mir eins: Ich habe in diesem Kapitel und in dem davor so sehr wie selten mit Allana und Jaime mitgefühlt und mir sozusagen "von der Seele geschrieben".
Ich wollte mich hier außerdem mehr auf Jaime konzentrieren, Allana wird im nächsten Kapitel noch genug Beachtung finden, worauf sich dieser Teil auch langsam dem Ende zuneigt und nur noch Harry Potter und die Heiligtümer des Todes ansteht.
...
Das ist schon krass.

Seine Erben (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt