Gähnend öffnete ich meine Augen und schaute neben mich. Die Bettseite, auf der Andre schlief, war leer. Ich streckte mich müde und stand langsam aus dem warmen Bett auf. Sofort schossen mir die Erlebnisse wieder durch den Kopf. Das Grab, diese Hand und die vergrabene Leiche. Ich drückte mit der Hand auf meine Stirn und hoffte so, das sich die Gedanken wieder auflösten. Doch das taten sie nicht. Während Andre und ich schweigend frühstückten, dachte ich die ganze Zeit an den Mann. Wir hatten uns beide, mit dem Rücken zum Garten, gesetzt, da wir den Anblick einfach nicht ertragen konnten. Ich aß viel. Sehr viel. Vermutlich lag das daran, das Andre und ich gestern nichts gegessen hatten. Nur wegen dieser scheiß Feier. Alles nur wegen dieser scheiß Feier. Andre seufzte. "Mir geht die Leiche nicht aus dem Kopf." Ich nickte und schaute ihn nachdenklich an. "Sollen wir die Polizei verständigen?" Er schüttelte den Kopf. "Wenn wir ihnen jetzt sagen würden, das ein Mensch umgebracht wurde, würden die das ganze Dorf stürmen. Wir würden deine Freunde niemals finden!" Ich stimmte ihm zu und legte erschöpft meinen Kopf auf seine Schulter. "Wollen wir duschen gehen?" fragte er grinsend. Ich lachte. "Vielleicht hilft das ja." Dann küsste ich ihn. Er war mein Retter. Ja, das hörte sich kitschig an, aber es stimmte. Ohne ihn, wäre ich hier verloren gewesen. Zärtlich hob er mich auf seinen Arm, ging in Richtung Bad und öffnete die Tür. Wir genossen den Kuss und stiegen in die heiße Dusche ein. Das Wasser auf dem Körper tat so unfassbar gut. Es war fast so, als würde es die ganzen Ereignisse einfach herunter spülen. Weit, weit weg von uns. Als wir mit allem fertig waren und uns schnell anzogen, gingen wir wieder in die Küche und deckten den Tisch ab. Danach setzten wir uns auf das Sofa und redeten noch miteinander. So konnten wir wenigstens ein wenig vergessen, das in unserem Garten eine Leiche lag. Als wir spazieren gehen wollten und gerade aus unserem Vorgarten gingen, begrüßten uns Nisa und Eric mit einem breiten Grinsen. "Gut geschlafen?" fragte Nisa, während sie eine rote Haarsträhne um ihren Finger wickelte. Wir nickten und bemühten uns dabei stark und unzerbrechlich auszusehen. "Ihr dürft sie besuchen." flüsterte Eric, so verrückt wie es nur ging. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Grinsen wurde immer breiter. "Wen?" Andre schaute verwirrt zu den beiden Bewohnern. Ich hingegen wusste ganz genau wen er mit 'sie' meinte. Meine Freunde. Ihre Gefangenen. Endlich durfte ich sie sehen. "Eure Freunde." bestätigte Nisa meine Vermutung. Ich schaute schnell zu Andre, der ganz leicht lächelte. "Na, konntet ihr es mal wieder nicht abwarten alles zu erzählen und auszuplaudern?" Tara kam zu uns und sah Nisa und Eric böse an. Die beiden zuckten nur mit den Schultern und verschwanden schnell. "Freut ihr euch?" lächelte sie boshaft. "Und wie." antwortete ich laut. Doch ein wenig Angst, breitete sich in meinem Bauch aus. Was ist, wenn meine Freunde längst tot waren? Verhungert oder verdurstet? Natürlich wollte das Dorf sie leiden sehen, aber wer wusste schon ob sie sich auch wirklich um ihre Gefangenen kümmerten. "Seid ihr bereit?" Wir nickten und schauten sie ernst an. "Gut, dann folgt mir. Ich werde euch zu dem Versteck bringen." Ich lächelte. Doch tief im inneren, war mir schlecht. Mehr als schlecht. Eine halbe Stunde lang irrten wir durch den dunkelen Wald herum. Keiner sagte etwas. Es war still. Bis wir an einer alten, großen Ruine ankamen. Tara kramte einen Schlüssel hervor, drehte ihren Kopf noch einmal zu uns um, lächelte und öffnete ein Stahlgitter. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, das auch nur irgendjemand dort leben konnte. Wobei leben war das falsche Wort. Es waren Gefangene. Natürlich sperrten die Bewohner sie nicht in irgeneinem kleinen Schlösschen ein und bedienten sie mit Kuchen und Kaffee. Wir gingen einen langen Gang entlang. Es roch nach feuchten Dreck und immer wieder tropfte Wasser aus der, nicht sonderlich hohen, Decke. Andre musste seinen Kopf einziehen und stöhnte immer wieder auf. Es war stockdunkel. Nur durch Tara's Lampe konnten wir ein wenig durch die kühlen Gänge sehen. Als wir an noch einem Gitter ankamen, sie dies wieder öffnete und wir einen genauso langen Gang entlang gingen, fragte ich mich wirklich, wie sie meine Freunde überhaupt hier rein bekommen hatten. Plötzlich kamen wir an einer kleinen Steintreppe an, an der am Ende eine Holztür, die relativ neu aussah, befestigt war. Tara atmete langsam aus. "Ihr habt es geschafft! Hie sind sie." Sie öffnete die Tür und ging hinein. Ich zögerte kurz und spürte wie meine Hände anfingen zu zittern. Andre drückte sie leicht und flüsterte mir ein leises: "Komm schon Emi.", zu. Dann liefen wir in den Raum. Er war groß und noch dunkeler. Steine lagen auf dem Erdboden und überall roch es verschimmelt und widerlich. Dann sah ich sie. Tränen stiegen mir in meine Augen auf und ich schluckte schnell den Drang herunter, sie in den Arm zu nehmen und zu befreien. Stattdessen stand ich einfach nur da und sah auf ihre schlafenden Körper. Rina, Sophie, Elif, Julian, Justin und Marcel. Alle lagen in dem Bunker. Gefesselt und geknebelt. Voller Dreck. "Warum schalfen sie?" fragte Andre, Tara leise. "Wir geben ihnen Beruhigungs- und Schlafmittel." Ich schluckte. Sie so zu sehen, tat echt weh. "Wollt ihr jetzt schon Spaß haben?" Tara zog einen braunen Ledergürtel aus ihrer Tasche und hielt ihn uns hin. "Nein!" rief ich, nicht wirklich leise. Tara sah mich verwirrt an. "Wir wollen uns das noch aufsparen. Ich meine, mir macht das keinen Spaß, wenn sie sich nicht wehren." Ich lächelte sie an. Daraufhin nickte sie und ging zu der Tür. "Kann ich verstehen." Ich schaute noch einmal zu meinen Freunden und lächelte. Wir werden euch da raus holen. Das verspreche ich euch! Diese zwei Sätze gingen mir immer wieder durch den Kopf, während wir aus der Ruine und dem Wald heraus gingen.
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Das Dorf des Schweigens
Mystery / ThrillerDie 18 jährige Emilia ist auf Klassenfahrt in einem kleinem Dorf. Aus Langeweile macht sie mit ihren Freunden eine Mutprobe. Sie und ein, bis vor ein paar Stunden noch, fremder Junge müssen in ein verlassenes Gebäude gehen. Dort finden sie Zeitungs...