Die Opfergabe

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Jede Nacht in dem Verließ war für mich und auch für die anderen die pure Hölle. Ich spürte meine Beine nicht mehr, da sie immer wieder einschliefen. Nun lagen wir eineinhalb Tage hier und starrten auf die kahlen, dunkelen Wände. Ein Mal am Tag kam ein vermummter Mann zu uns und brachte uns zwei Brotscheiben und eine Flasche Wasser, die er uns Tröpfchenweise einflößte. "Was habt ihr eigentlich in dem Dorf gemacht?", fragte Elif leise, um wenigstens für einen Moment nicht an unseren Tod denken zu müssen. "Scheiß Rituale und drei Phasen.", antwortete ich knapp. Meine Kehle kratzte und mein Rachen brannte, wie verrückt. "Phasen? Was ist das?" Fragend beäugelte uns Sophie von der Seite, ließ dann wieder ihren Kopf sinken. Andre erklärte ihr es in knappen Sätzen und seufzte immer wieder. "Simulation? Wie soll denn so etwas gehen?"
"Keine Ahnung." Und somit war unser Gespräch schon wieder beendet. Ich schaute zu Andre und meine Augen und mein Herz schmerzten sofort. Er sah so schwach aus. So unfassbar schwach. Das Blut in seinem Gesicht war vertrocknet. Sein blaues Auge verfärbte sich langsam grün. Und immer wieder fielen ihm beide  erschöpft zu. Aber auch mir ging es täglich schlechter. Durch die kalte Luft zog ich mir eine Erkältung zu. Vermutlich hatte ich eine Bronchitis, diagnostizierte mir Julian. Das Gitter ging auf und zum ersten Mal in den eineinhalb Tagen trat Tara hervor. Hinter ihr standen Eric, Nisa und vier andere Männer. Sie alle kamen auf uns zu und entfesselten uns mühsam. "Die Opfergabe.", lächelte Tara in meine Richtung. Während des hinausgehens schloss ich meine Augen. Das war das Ende. Unser persönliches Ende. Gerade einmal achtzehn Jahre lebte ich auf dieser Erde. Warum mussten wir so etwas erleben? Warum wir? Das war ungerecht. Aber dachten so nicht vermutlich alle Opfer einer Entführung oder eines Mordes?
Wir kamen an der gleichen Lichtung an, die auch für die drei Phasen genutzt wurde. Ein paar Leute saßen auf den Boden und bemusterten uns. Sie lachten und grinsten schadenfroh. Unter ihnen konnte ich Marcel, in der ersten Reihe erkennen. Er sah so aus, als würde ich endlich das bekommen, was ich verdiente. Hinter den Leuten tauchte ein Matterpfahl auf, daneben ein Eimer voller Steine. Sophie entwich ein lauter Schrei. Ich sah noch im Augenwinkel, wie sie sich wehrte, wild trampelte und wie in ihrem Körper plötzlich eine Spritze gerammt wurde. Ihre Kraft ließ langsam nach, bis sie schließlich in die Arme des Typen sackte. Ich riss meine Augen weit auf. Auch die anderen beobachteten die Situation schockiert. Das war unser letzter Weg. Der Weg in den Tod. Plötzlich ertönte Musik. Wir zuckten zusammen und sahen uns hektisch um. Eine Art Musik, wie bei dem Eintritt der Braut in die Kirche. Nur das dies nicht eine Hochzeit war, sondern ein Mord. Die Stimmung der Leute war fröhlich, geradezu feierlich und sorglos. An dem Matterpfahl angekommen platzierten sie uns in einer Reihe. "Tormentum mortis.", schrie Tara. "In perpetuum." Alle schnipsten wie verrückt und brachen in lautes Gelächter aus. "Die Zeit ist reif. Pulchram und Particeps werden dafür büßen. Sie haben nicht vor Lügen zurück gescheut. Sie wollten uns ausrotten, uns fertig machen." Ich schluckte. Ob sie von der Polizei wussten? Oder ob auch diese eingeweiht war und zum Dorf gehörte?  "Doch das lassen wir nicht auf uns sitzen. Die Opfergabe wird sie alle ausrotten." Lautes Klatschen und Trampeln. Ich starrte auf das saftig, grüne Gras, dass in der Sonne leicht schimmerte. Der Tag war besonders sonnig und warm. Nicht so, wie man es sich bei seinem Tod vorstellte. Ich träumte kurz davon ein anderer Mensch zu sein. Ein anderer Mensch, an einem anderen Ort. Im Freibad auf einer Rutsche. Das Wasser perlte auf meiner Haut ab und erfrischte mich. Der Geruch von Chlor und heißen Pommes drang in meine Nase. Alles schien so friedlich und beruhigend. Doch dann holte mich die dunkele Wirklichkeit wieder ein. Ich dachte an meine Eltern. Wie würden sie reagieren, wenn ihr Kind von einer Sekte ermordert worden war? Bloßgestellt an einem braunen Matterpfahl. Wie würden unsere Mitschüler reagieren, wenn vier von ihnen tod waren? Was würde auf unserem Grabsteinen stehen? Andre setzte sich plötzlich in Bewegung
Er war der Erste. Der Erste, der ausgepeitscht und mit Steinen beschmissen werden würde. Ich schaute ihm in seine grünen Augen. "Wir werden uns wiedersehen Andre.", schluchzete ich hörbar. Er nickte und lächelte mich sanft an. Ich weinte. Ich weinte zum vierzigsten Mal in nur einer Woche. "Particeps, möchtest du noch irgendetwas sagen?", fragte Tara. Andre blickte, festgebunden an dem Holzpfahl, zu mir. "Emilia ich liebe dich. Und ich bin froh, dass ich dich kennenlernen durfte." Eine Träne lief seine Wange herunter. Mein Herz entsprang in tausend Stücke. "Ich auch Andre." Dann schaute er wieder auf den Boden und kniff seine Augen zu. "Das ist ja rührend." Der Meister kam uns entgegen und klatschte mit seinen leichenblassen Händen. "Süß ihr beiden!" Er trat immer näher zu mir und hauchte mich an. "Ihr hättet euch nicht mit uns anlegen dürfen." Tara kicherte leise. Der Meister entfernte sich von uns und setzte sich in das Publikum. "Lasst uns beginnen." Die vermummten Männer griffen in den Eimer voller Steine und nahmen jeweils drei große heraus. Ich schaute schnell weg und hoffte auf ein schnelles Ende. Es sollte einfach ganz, ganz schnell vorbei sein. Doch anstatt eines lauten Schlags hörte ich einen Schuss. Einen Schuss, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Das Dorf des Schweigens Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt