Kapitel 6

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"Gottseidank ist das nur eine Notlösung.", sagte Swist am nächsten Morgen, reckte und streckte sich und verzog die Schnauze zu einer grimmigen Fratze, als sein Rücken knackte. Er war ohne Zweifel genauso geschunden von der Nacht auf dem harten Boden wie ich. Da der Vormieter sein Bettgestell mitgenommen und nur die Matratze in der Wohnung liegen gelassen hatte, war auch meine Nacht nicht die Beste gewesen. Die gelbe Schaumstoffmatratze war wohl die unbequemste und hässlichste Schlafmöglichkeit des Jahrhunderts. Ich war mir ziemlich sicher, dass Swist auf dem kalten Betonboden besser geschlafen hatte als ich auf dem gelben Schaumstoffungetüm.

"Geh' nicht so hart mit meiner ersten Wohnung ins Gericht.", meldete ich mich zu Wort. Er lachte auf. "Hart ins Gericht?", fragte er und setzte noch hinzu: "Wenn ich mit ihr hart ins Gericht gehen würde, hätte ich gesagt, dass ich noch nie eine heruntergekommenere, von jeglicher menschlicher Zivilisation abgeschnittene Wohnung, zu Gesicht bekommen habe." "Fern von jeglicher Zivilisation?", fragte ich spöttisch. "Gleich um die Ecke ist ein Supermarkt.", erklärte ich. "Hast du dir den Typen an der Kasse mal genauer angesehen? Der ist doch kein Mensch! Das ist ein Gollum oder die perfekte Nachbildung von Frankenstein, aber sicherlich kein Mensch."

Ich musste lachen. Ja, damit hatte er nicht unrecht, der Kassierer war mit seinen kurzen, strohigen, straßenköterblonden Haaren und dem sommersprossigen Gesicht alles andere als schön und attraktiv. Ich fand, er hatte etwas von einer fetten, dicken Made. "Läster' nicht über den armen Kerl, der ist schon genug gestraft mit seinem Aussehen.", lachte ich. "Aber selber!", lachte Swist. Auch ich streckte jetzt meine Arme und Beine, schnappte mir eine Hose und schlüpfte hinein. Es war zwar noch sehr früh am Morgen, aber noch eine Stunde länger auf der gelben Hölle und ich würde nie wieder gerade stehen können. Ich gähnte genüsslich, nachdem ich mir noch ein schwarzes Shirt übergezogen hatte.

Ich nutzte den Moment und nahm nochmal meine "Wohnung" in Augenschein. Wände, von denen nicht nur der Putz rieselte, sondern auch alte Tapetenreste sie noch zierten, Überreste von Bodendielen, die knarrten; Wind, der durch die Spalten, die sich an der verzogenen Tür und an den Fenstern gebildet hatten, seinen Weg in das Innere der Wohnung fand, machten sie alles andere als gemütlich und ansehnlich. Moos und Schimmel rahmten die Fensterdielen, die vor langer Zeit einmal sauber und glänzend gewesen sein mochten, aber über die Zeit und aufgrund von fehlender Pflege heruntergekommen waren. Im Zentrum der Wohnung lag das geräumige Wohnzimmer mit einer alten, zerfetzten und gelblich verderbten Couch; wahrscheinlich war dem früheren Besitzer etwas auf ihr ausgelaufen. Ein kleiner Glastisch, dessen Platte mit Rissen wie Adern durchzogen war und ein alter modriger Ohrensessel, der einen Bezug mit dem Gardinenmustern von alten Omas vorzuweisen hatte, komplettierten dieses "Ensemble".

Auch in der kleinen Küche wurde der Anblick der Wohnung nicht besser, sondern eher schlechter. Ein fast komplett zerfallener Gasherd zischte zwischenzeitlich vor sich hin, ein weißer Kühlschrank, dessen Tür klemmte, kühlte schon lange nicht mehr und die mal vorhanden gewesene Arbeitsplatte war von den kleinen Küchenschränken gewaltsam entfernt worden, als hinge jemandes Leben davon ab, die schon ruinierte Küche noch mehr zu ramponieren. Das einzig Schöne an der Wohnung war die Aussicht auf das Familienhaus, das auf einem großem Hügel erbaut wurde, dessen Wiesen mit schönen Sommerblumen bedeckt war. Ich seufzte. Nein, die Wohnung war kein schöner Anblick, aber sie war erschwinglich, ich konnte in bar zahlen und brauchte keinen Ausweis vorzulegen. Somit erfüllte sie ihren Zweck und das reichte mir.

Die Nachbarn waren zwielichtige, graue Gestalten, dessen Gesichter verlebt, traurig und einsam wirkten, sie schrien förmlich: So wollte ich nicht enden. Ich nahm all meinen Mut zusammen und überwand mich, meine Wohnung zu verlassen. Wie ich gesehen hatte, waren die Türen eh kein Hindernis für Fremde, die sie betreten wollten. Im hellen Tageslicht wirkten die Einbruchsspuren noch gewaltsamer und angsteinflößender als in der Schwärze der Nacht.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt