Kapitel 22

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Ich holte tief Luft, zog mir meine Weste wieder über und machte mich auf Erkundungstour.

In den unteren Flure befanden sich, wie sich herausstellte, lediglich ein großer Saal und kleinere Wohnzimmer und ein bis zwei Schlafräume. Im zweitem Stock fand ich nur noch Schlafzimmer und einige Dienstbotengänge, die entweder hinunter in die Küche oder zu den Stallungen führten. Und auch im dritten Stock verhielt es sich nicht anders.

Siebenunddreißig Zimmer später hatte ich alles, was sich ein Historiker wünschen konnte, gesehen, war jedoch nicht sonderlich schlauer als vorher, mal abgesehen davon, dass die Ritter auch im 17. Jahrhundert ihre Klamotten überall im Zimmer verstreut liegen ließen. Nachdem ich mich durch Strumpfhosen und zig Hemden gewühlt hatte, war ich nur auf einen Zugang im Boden gestoßen, der jedoch abgeschlossen war.
Im Grunde war meine Durchsuchungsaktion mehr als reine Zeitverschwendung gewesen.

Mit hängenden Schultern machte ich mich auf den Weg zu Gwendolyn's und nun auch meiner Kammer. Die Mägde teilten sich immer zu dritt oder viert eine kleine Abstellkammer. Ich teilte mir meine mit Gwendolyn und dem anderen Mädchen, das Abigail am Morgen geohrfeigt hatte. Leise stieß ich die Tür auf und tapste auf Zehenspitzen an den beiden schlafenden Mädels vorbei zu meinem Heuhaufen.

Ja richtig. Heuhaufen.

Im 17. Jahrhundert mussten die Bediensteten doch tatsächlich auf Heu schlafen. Ich fand, das hätte viel eher in ein Geschichtsbuch gehört anstelle der unterschiedlichen Dienstgrade einer Magd. So wie ich das mitbekommen hatte, hatten Dienstgrade hier recht wenig zu sagen. Obwohl Gwendolyn eine Kleinmagd war, musste sie Arbeiten innerhalb des Gebäudes verrichten und hatte, anders als das Geschichtsbuch beschrieb, noch nie in ihrem Leben eine Kuh gemolken. Soviel also zum Thema Geschichte.

Das Heu raschelte unter mir und ich hoffte inständig, dass sich unter den ganzen Halmen keine kleinen Tiere versteckten, die mir nachts über das Gesicht laufen konnten. Ach ja, und hinzu kam, dass ich keine Unterhose trug. Anscheinend waren Unterhosen im 17. Jahrhundert noch nicht in Mode gekommen, was ich reichlich unangenehm fand. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, wie mich die riesigen Hände der Edelherren begrapscht hatten, musste ich daran denken, dass zwischen ihnen und meiner nackten Haut nur ein Wollkleid und ein Unterkleid gestanden hatten. Immerhin hatte ich schon Strümpfe an, dass war mit Sicherheit der evolutionäre Fortschritt des Mittelalters. Als ich die Augen schloss, betete ich, dass ich Morgen früh wieder zu Hause aufwachen und unten herum eine Unterhose tragen würde.

***

Als ich einen Hahn krähen hörte, glaubte ich noch zu schlafen. Mürrisch grummelnd wälzte ich mich in meinem Bett umher, bis ich wieder eine angenehme Liegeposition gefunden hatte. Irgendetwas stach mir in die Nase, aber ich blendete es aus. Wahrscheinlich war es nur Gereg, der mich mal wieder ärgerte, so wie er es früher häufig getan hatte.

Es krähte ein weiteres Mal. Das konnte doch nicht wahr sein! Hatte Gereg einen neuen Wecker? Wenn er ihn nicht bald ausstellte, würde ich es tun. Immer noch schlaftrunken tastete ich nach meinem Kissen, um es mir über den Kopf stülpen zu können, doch ich fand es nicht. Stattdessen fühlte ich etwas Langes, Glattes, das bei größerer Kraftzufuhr einknickte und dabei ein komisches Geräusch machte.

"Aufsteh'n! Komm schon! Das war schon das zweite Kräh'n, du komms' noch zu spät." Etwas rüttelte und schüttelte an mir. Schnaufend versuchte ich mich mit meinen Händen abzuschirmen um weiter zu schlafen. "Noch fünf Minuten, Mum.", bettelte ich. "Ich bin nich' deine Mum!", zischte es an meinem Ohr und ich wurde unsanft an meinen Armen in die Höhe gewuchtet.

Müde blinzelte ich mit den Augen. Vor mir standen zwei Mädchen mit langen Kleidern aus Baumwollstoff und einer Haube auf dem Kopf. "Du muss' dich beeil'n! Du has' in dein'm Kleid geschlaf'n, deshalb muss'de dir 'n frisch's überzieh'n und wir hab'n nich' mehr allzu viel Zeit. Madam Abigail wird uns noch zum Stalldienst verdonnern.", sagte das Mädchen mit dem dunkelblonden Haaren, die aus ihrer Haube hervorlugten.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt