Kapitel 39

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Mit einem bestialischem Krachen schwang die Doppelflügeltür aus ihrer Verankerung und der Heilkundige ließ das Kurzschwert fallen, ehe es meine Haut durchschnitten hatte. Ich seufzte erleichtert auf. Da waren sie! Alle beisammen versammelt, stürmten sie den Saal, Swist an ihrer Spitze. Einer der beiden Jäger, der kurz zuvor noch Nicklas in Gewahrsam hatte, stürmte auf die Truppe der Gezeichneten zu. Ein Kampf brach los. Lucas' Fingerspitzen sprühten Funken, die auf den Mann übersprangen. Der andere der Männer war in der Wand verschwunden, aus der ursprünglich Miss Mayer getreten war. Er rief etwas, das ich nicht verstand und ließ einen lauten Ton erklingen.

Wenige Augenblicke später war der Saal von kämpfenden Menschen erfüllt. Immer mehr Jäger und Exorzisten eilten herbei, während Lucas und Jeremy sich tapfer mit ihnen duellierten. Einige Männer und Frauen gingen in Feuer auf, andere wurden quer durch den Raum geflogen und aus halsbrecherischer Höhe fallen gelassen. Der Saal glich einem Schlachtfeld. Auch Alice schlug sich tapfer, indem sie einige Angreifer unter ihre geistige Kontrolle brachte und sie einschlafen ließ.

Doch auch die Jäger hatten einige Asse im Ärmel. Es dauerte nicht allzu lange und ein breit gebauter, junger Mann baute sich vor Alice auf und schlug sie mit einem kräftigen Hieb zu Boden, während sie einen seiner Verbündeten in einen tiefen Schlaf versetzte. Entsetzt keuchte ich auf. Die Zwillinge waren ebenso dabei, einige Jäger außer Gefecht zu setzen, doch unsere Feinde waren einfach in der Überzahl.

Der Heilkundige schnalzte verärgert mit der Zunge und funkelte mich böse an. "Das waren du und dieses Biest, nicht wahr?!", fragte er verärgert und zeigte mit der Spitze des Schwertes auf meinen Höllenhund, der gerade einen Exorzisten in die Enge trieb. "Aber das wird euch nichts nützen!", fauchte er und bewegte sich mit geschmeidigen Schritten auf die kämpfenden Gruppen zu. Miss Mayer folgte ihm, den giftigen Dolch immer noch in ihrer rechten Hand haltend. Der Heilkundige schwang sein Schwert mit der Absicht, einem der Zwillinge den Kopf vom Rumpf abzutrennen, doch dieser drehte sich noch im richtigen Augenblick zur Seite und wurde von der Klinge nur am Arm gestreift. Trotzdem floss Blut.

Ich schrie! "Hören Sie auf damit! Lassen Sie sie in Ruhe!" Doch er beachtete mich gar nicht weiter. Erneut holte er mit dem Schwert aus, traf aber auch dieses Mal nicht. Dennoch hatten nur wenige Millimeter gefehlt und er hätte Léans Körpermitte in zwei Teile getrennt. Miss Mayer legte dem Heilkundigen eine Hand auf die Schulter, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie flüsterte etwas in sein Ohr, woraufhin sich seine Konzentration wieder auf mich richtete. Da hatte Claire auch schon Anlauf genommen und die zarte Blondine zu Boden geworfen. Der giftige Dolch rutschte aus ihren Fingern und sauste über den Marmorboden aus ihrer Reichweite. Sie fluchte.

Ich riss und zerrte an meinen Fesseln, doch anstatt sich zu lösen zogen sie nur tiefe, blutige Furchen in meine Haut. Obwohl meine Freunde um ihr Leben und das Meine kämpften, konnte ich nichts weiter tun als tatenlos zuzusehen, wie sie sich in Gefahr brachten. Wuttränen rannen mir über die Wangen und hinterließen schwarze Spuren von Mascara. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Konnte ich denn wirklich nichts machen? Von wegen, besondere Gabe! Wo war denn meine wundersame Macht, die das Monster, das gerade erneut einen meiner Freunde mit seinem Schwert gefährlich verletzte, am Töten hindern sollte?! Außer als mit meinem Geist durch die Zeit zu reisen konnte ich doch nichts! Bis auf das eine Mal, als ich in Nicklas eine goldschimmernde Gestalt hineingezogen hatte, hatte ich noch nichts zu Stande gebracht! Der Heilkundige hatte recht.

Ich war nutzlos.

Ich wusste nicht einmal, was ich konnte und was nicht.

Lucas wich gekonnt einem Dolch aus, den ein Jäger mit ergrautem, beinahe weißem Haar auf ihn gerichtet hatte. Irgend etwas an der Art des Jägers kam mir vage vertraut vor. Dann sah ich sein Gesicht. Es war Lucas' Vater! Fassungslos sah ich dabei zu, wie er versuchte, seinen Sohn tödlich zu verletzen. Und obwohl Lucas, als er mir von seinem Vater erzählt hatte, so entschlossen geklungen hatte, was seinen Tod betraf, so hielt er sich nun erstaunlich zurück. Nicht einer seiner glühend heißen Hände hatte seinen Vater berührt, er tänzelte lediglich um ihn herum und wich seinen Dolchstößen aus. Wieder und wieder stieß sein Vater mit dem Dolch nach ihm. Er war gar nicht schlecht. Flink wand er sich unter dem Arm seines Sohnes hindurch und stieß mit dem Dolch zu.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt