Langsam aber sicher beruhigte sich mein Körper wieder und ich konnte meine Umgebung immer besser wahrnehmen. Meine Arme und Beine waren von ihrer Taubheit befreit und in meinem Kopf herrschte eine angenehme Ruhe. Meine Füße standen unverändert in dem nassen Gras, jedoch fehlte von Lucas und Jeremy jede Spur.
Auch die anderen waren verschwunden.Inmitten der Lichtung tummelten sich riesige, lange Holzscheite übereinander, in dessen Mitte ein einziger Holzstamm in die Höhe ragte. An ihm hingen Stricke, die im kalten Nachtwind hin und her schwangen. Ansonsten war die Lichtung wie ausgestorben.
Um meine Beine herum flatterte etwas, das sich anfühlte wie der Saum eines Kleides. Und als ich an mir nach unten schaute, hatte ich die unangenehme Gewissheit.
Ich stöhnte. Nicht schon wieder ein Kleid! Konnte ich nicht in einem dieser Träume nur ein einziges Mal eine Hose tragen? Musste es denn jedes Mal ein Kleid sein? Und dann gleich immer die der extrem unpraktischen Sorte. Lange, bauschige Röcke, eng zugeschnürtes Korsett und natürlich der unangenehmste kratzige Stoff, den ich jemals an meiner Haut hatte spüren dürfen. Es war doch zum Verzweifeln! Zumindest hatte ich dieses Mal Schuhe an. Na gut, vielleicht keine der bequemen Art, aber immer noch besser als gar keine Schuhe.
Und meine Haut war auch nicht überzogen mit irgendeinem schwarz - braunen Dreck. Das war doch schon einmal ein Anfang. Im nächsten Traum würde ich an einer Hose arbeiten, Schritt für Schritt, bis ich wieder ganz ich selbst war, das schwor ich mir selbst. Immerhin waren es ja meine Träume, also könnte ich auch entscheiden, was ich anziehen wollte. Zumindest hoffte ich das.Kalter, eisiger Wind riss mich aus meinen Gedanken und ließ meine Haare wirr in der Luft tanzen. Natürlich waren es nicht meine Haare, genauso wenig wie es sich bei dem Körper um meinen eigenen handelte. Ich wusste zwar nicht, wie man gesetzlich den Körperdiebstahl handhabte, aber ich war mir sicher, dass es hart geahndet wurde. Ich stahl ja nicht einfach nur jemandes Wertsachen, nein, ich übernahm gegen meinen Willen einen Körper, der nicht der meine war.
Aber es war ja eh alles nur ein Traum! Nichts hiervon konnte jemals real sein, oder? Ich wusste es nicht, aber so langsam kamen mir Zweifel. Dabei fiel mir auf, dass ich seit geraumer Zeit selten noch etwas wusste. Ich war zu einem unwissenden, streunenden Mädchen geworden, das die Kontrolle über ihr eigenes Leben verlor und jetzt auch noch über ihre Träume. Es wurde von Tag zu Tag immer schlimmer.
Wütend trat ich die unbequemen, hölzernen Schuhe von den Füßen und ertastete die kühlen, nassen Grashalme. Meine wütenden Züge entspannten sich bei der angenehmen, neuen Freiheit meiner Füße. Der letzte Schutz zwischen ihnen und der Wiese waren alleine die groben Baumwollsocken, die sich mit der Nässe voll sogen und zwischen meinen Zehen ein unangenehmes Gefühl heraufbeschworen, aber es war mir egal. Lieber lief ich mit vor Nässe triefenden Socken durch die Wälder als mit diesen hölzernen Ungetümen, die sich als Schuhe ausgaben.
In der dunkeln Nacht konnte ich leider nicht viel über den Umstand meines Kleides oder den meines Körpers ausfindig machen, was mich nicht gerade optimistisch stimmte. Was sollte ich hier? Eine Frau in einem Kleid, auf einer Wiese, nachts, neben einem Scheiterhaufen. So fingen Gruselgeschichten an, dachte ich und stieß ein verbittertes Lachen aus. Und zu allem übel rieselten die ersten Tropfen eines bevorstehenden Gewitters auf mich hinab.
Mürrisch richtete ich mein Gesicht in den Himmel und ließ einen Tropfen nach dem anderen auf mein Gesicht fallen und an ihm hinabrinnen. "Wirklich? Ist das dein Ernst?", schrie ich in den Schlund des beginnenden Sturms und hörte, wie eine mir unbekannte Stimme über die Lichtung widerhallte. Nicht einmal meine Stimme gehörte länger mir, sondern dem Körper, den ich bewohnte. Es war zum Mäuse melken!
Ich wusste nicht, wie lange ich dort so stand, das Gesicht in den Himmel gestreckt und die Arme ausgebreitet, als könnte ich mich in die Lüfte erheben. Meine Röcke trieften jedenfalls, dank des Regens, vor Nässe und meine Wangen waren zu Eis erstarrt, jeder Tropfen Blut war aus ihnen gewichen. Ich regte mich erst aus meiner Starre, als ich eine fremde Stimme vernahm, die über die Lichtung nach einer gewissen Mary schrie. Zumindest glaubte ich, das er Mary gerufen hatte.
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ROT - Die Farbe meiner Tränen, Leseprobe
FantasiaBand 1 ROT Trilogie, Leseprobe Das Buch erschien im Juli 2021 als Zweitauflage beim Wreaders Verlag Jäger, Exorzisten, Späher, ein mysteriöses Tattoo und ein frecher Höllenhund stellen Felina Morris' Leben in kürzester Zeit auf den Kopf. Die 16jähr...