Kapitel 32

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Das Erste, das ich wieder wahrnahm, war der starke Geruch von Laub und das unglaublich laute Rauschen der Bäume. Ein starker Wind wehte mir um die Nase und ich hatte das Gefühl, mich in einem Orkan wieder zu finden. Mein ganzer Körper zitterte und meine Ohren bogen sich in jede Richtung aus der ich ein neues Geräusch vernahm.
Moment mal, warum waren meine Ohren derart beweglich? Und seit wann konnte ich einen derart starken Geruch von Erde, Blätter und Regenwasser vernehmen? Verwundert schlug ich meine Augen auf und erstarrte.

Alles um mich herum war überdimensional groß! Die Bäume hatten die Größe von Wolkenkratzern angenommen, dessen Wipfel ich nur mit größter Mühe erspähen konnte und ihre eigentlich grün leuchtenden Blätter hatten stark an Farbintensität verloren. Die Blätter, auf denen ich bettete waren beinahe so groß wie ich selbst und auch das Gras, das mich bis vor wenigen Minuten mit seinem schlammigen Untergrund in die Verzweiflung getrieben hatte, war auf einmal größer als ich und überragte mich um ein bis zwei Köpfe. Wo um alles in der Welt war ich?

Verzweifelt blickte ich an mir hinunter um feststellen zu können, in wessen Körper ich nun geraten war. Doch das, was sich meinen Augen bot, konnte und wollte ich nicht so recht glauben. Statt menschlichen Händen hatte ich kleine Pfötchen aus braun-rosanem Fleisch, dessen Gelenke in braunes Fell überflossen, das die Arme bis zum Schulterblatt und darüber hinaus bedeckte.

Schnell setzte ich mich auf und betrachtete den Rest meines Körpers. Meine Brust und auch der Bauch, ja, meine ganze Vorderseite war mit weichem braunen Fell bedeckt und ein rosafarbener langer Schlauch lag um die kleinen Pfötchen, die ich als Füße identifizierte. In meinem Magen breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Langsam tastete ich mit den Pfötchen, ich schätzte es waren meine Vorderläufe, mein Gesicht ab und bestätigte mein übles Gefühl. Anstelle einer kleinen Stupsnase hatte ich eine längliche Schnauze mit einer kleinen feuchten Nase, an dessen Seiten sich Tasthärchen befanden. Meine Ohren lagen weiter oben auf meinem ebenfalls mit Fell bezogenen Kopf an und hatten die Form von kleinen Muscheln, die sich unabhängig voneinander bewegen ließen. Ich brauchte mich gar nicht weiter betrachten um zu wissen, wessen Körper ich übernommen hatte.

Diese verfluchte kleine Maus, die mich komplett aus meinem Konzept gebracht hatte!

In den letzten Momenten meines Dahinschwindens hatte ich mich zu sehr auf die kleine Maus konzentriert, anstelle eines Mädchens, das die Kirche betrat. Und jetzt hatte ich den Salat. Ich war gefangen in dem Körper eines Nagetiers! Zögerlich setzte ich eine Pfote vor die andere und versuchte dabei, nicht ständig über meinen viel zu langen Schwanz zu fallen. Mal ehrlich, wozu sollte dieses Ding gut sein, ausser von einer Katze schneller gefangen zu werden?

Mühselig bahnte ich mir einen Weg durch das Gestrüpp in der Hoffnung, wenigstens in der richtigen Zeit und am richtigen Ort gelandet zu sein, wenn es schon nicht mit dem Körper hingehauen hatte. Der schlammige Untergrund wechselte zu einem mit Steinen gepflasterten Weg, dessen Mündung an dem Eingang einer hölzernen großen Wand endete. Mit tapsigen, ungeübten Schritten huschte ich über das Pflaster, in der Hoffnung, dass die hölzerne Wand in Wahrheit eine hölzerne Tür war, die in das Innere einer sehr alten Kirche führen würde. Kaum als ich vor der großen Tür zum Stehen kam, eröffnete sich mir ein völlig neues Problem, das ich bis zu diesem Augenblick gar nicht wahrgenommen hatte.

Wie zum Teufel sollte ich die Tür öffnen? Mit viel Glück schaffte ich es gerade mal, den Steinbogen über der Tür ins Auge zu fassen. Meine Güte, hatten Mäuse einen schlechten Sehsinn. Im Körper einer Maus an einen Türgriff heranzukommen, geschweige denn ihn nach unten zu drücken und die Tür aufzustoßen, war mehr Wunschdenken als Realität. Wie sollte ich das bewerkstelligen? Mir blieben nur zwei Möglichkeiten. Entweder vor der Tür versauern und darauf warten, dass irgend ein Dummer vorbeikommen würde und sie für mich aufstieß, oder aber nach einem kleinen Loch suchen, durch das sich schon andere Mäuse Zugang verschafft hatten. Langsam kroch ich auf allen vieren an der Tür vorbei, um die Ecke herum und spähte in das hoch gewachsenen Gras, das auf mich wirkte wie ein riesiger Wald aus hellgrünen, pastellfarbenen Bäumen.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt