Kapitel 38

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Als ich die Flügeltür zum großem Ballsaal aufstieß, sah ich tatsächlich Nicklas. Er sah geschafft aus. Seine blonden wilden Locken waren schweißnass und klebten ihm an der Stirn, seine wundervollen ozeanblauen Augen waren geschlossen, seine Hände waren in Ketten gelegt und von einer Wunde am Arm lief Blut hinab. Aber sein Brustkorb hob und senkte sich. Er war noch am Leben.

Ich lief auf ihn zu, den Dolch immer noch fest in meinen Händen. Vielleicht konnte ich damit seine Fesseln lösen. Erst als ich vor ihm stehen blieb fielen mir auch die metallenen Fesseln an seinen Fußknöcheln auf. Die Jäger waren sehr sorgfältig, dachte ich grimmig, als ich über seine schmutzige Wange strich. Er war eiskalt! Schnell hatte ich meine Lederjacke ausgezogen und sie ihm um die Schultern gelegt. Langsam öffnete er die Augen.

"Hey.", sagte ich sanft. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen und sahen mich ängstlich an. "Hey, alles wird gut. Ich hol' dich hier 'raus. Du brauchst keine Angst mehr zu haben." Ein Beben fuhr durch seinen Körper und noch bevor ich mich versah, hielt ich ihn schon in meinen Armen. "Scht. Ich mach' dich sofort los." "Nein!", keuchte er, seine Stimme war rau und heisern. "Du musst sofort verschwinden! Hau ab!", er schubste mich von sich und sah mich eiskalt an.

"Ich hab' gesagt, du sollst abhauen! Geh weg! Keiner will dich hier!" Für einen kurzen Moment war ich vollkommen sprachlos. Was hatten sie nur mit ihm gemacht? Hatten sie ihn erneut einer Gehirnwäsche unterzogen? Das konnte doch nicht sein. "Nicklas, das bist doch nicht du. Komm, ich helfe dir hier 'raus und dann reden wir über alles, ganz in Ruhe. Das mit Lucas und dir, das bekommen wir schon wieder hin." "Ich will nichts hinbekommen! Und dich will ich erst recht nicht! Ich gehöre hierher. Zu den Jägern und zu niemanden sonst. Wenn du mir die Fesseln abnimmst, werde ich nicht zögern, dir die Halsschlagader zu durchtrennen! Hast du mich verstanden?!"

Mir stockte der Atem und meine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Was passierte hier gerade?
"Aber Nicklas, ich liebe dich." Tränen traten mir in die Augen und ein Schluchzer entfuhr meinen Lippen. "Ich dich aber nicht! Ich hasse dich." Seine blauen Augen waren hart wie Stein und sein Gesicht ließ keinen Hinweis auf seine Emotionen zu. Und obwohl ihm die Haare in der Stirn klebten und er blutete, wirkte er auf einem mal überhaupt nicht mehr verletzlich und hilflos. Ich wusste einfach nicht was da gerade passierte. Mein Herz blickte seinem Ende entgegen. Doch da war noch diese eine existenzielle Frage in mir, die ich ihm stellen musste, nach allem, was geschehen war.

"Und was ist mit dem Kuss? Du hast gesagt, dass du dich zu mir hingezogen fühlst. Dass ich etwas an mir habe, das dich nicht loslässt." Meine Stimme bebte vor Angst und Trauer. "Der Kuss hat mir nicht das Geringste bedeutet. Ich wollte nur dein Vertrauen gewinnen. Das waren alles Lügen, Felina! Und du dummes Mädchen hast sie alle geglaubt." Er lachte spöttisch auf. Seine Augen bekamen dabei einen tiefdunklen Schimmer, der mich an die Dunkelheit selbst erinnerte.

"Wozu das Ganze?", fragte ich unter Schluchzen. "Damit du mir vertraust und ich dich leichter zur Strecke bringen kann." "Warum hast du es denn dann nicht schon längst getan?" "Weil ich nicht nur dich töten wollte!" Ich schniefte und wischte mir mit dem Handrücken über die verweinten Augen. "Und warum hast du mir dann aus dem Kerker geholfen?" Nicklas schnaubte verächtlich, so als würde die Antwort klar auf der Hand liegen. "Weil ich das Versteck der anderen kennen wollte, damit ich euch alle abschlachten kann.", spie er mir die vernichtenden Worte entgegen.

Ich schlug mir vor Entsetzen die Hand vor den Mund. "Und ich bin drauf 'reingefallen.", flüsterte ich entsetzt zwischen meinen Fingern. Ich dummes, dummes Mädchen, ich hatte ihn an mich 'rangelassen, hatte ihm vertraut, mich sogar verliebt. Ich war hier sogar eingebrochen, um ihn zu retten! Ihm zu helfen! Ich spürte, wie meine Knie unter mir nachgaben und ich auf dem harten Marmorboden aufschlug.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt