Kapitel 18

751 72 8
                                    


Ich kraulte Swist seinen halb mit Fell bedeckten Wanz. Zu meinem Bedauern hatte mein treuer Gefährte einige Kilos zugenommen. Der Aufenthalt bei den Gezeichneten bekam seiner Figur ganz offensichtlich nicht, denn nicht nur sein Bauch hatte Fett angesetzt. Er wirkte im Allgemeinen etwas stämmiger und schwerer, was meine Beine jetzt nun überdeutlich zu spüren bekamen.

Er hatte sich während meiner Krauleinlage immer mehr auf meinen Schoß geschoben und streckte alle Viere von sich. In manchen Momenten waren die Handtaschenratten - eigentlich hießen diese Hunde ja Chihuahuas - doch nicht zu verachten. Ich war mir sicher, das Frauchen eines Chihuahuas musste nicht solche Kilos stemmen, wie ich es jetzt musste.

"Du hast ganz schön zugelegt. Weißt du das? Und überhaupt frage ich mich schon die ganze Zeit, wie es eigentlich sein kann, dass du normale Nahrung zu dir nehmen kannst, wo doch behauptet wurde, du seist ein Zwischenwesen." Er zog fragend die Brauen hoch. "Na du weißt schon, halb tot und so."

Er lachte, was meine Beine zum schmerzhaften Vibrieren brachte, aber ich ignorierte sie. Dann zuckte er mit seinen Vorderläufen wie andere mit ihren Schultern. Das war einmal ein ausführliches Gespräch. Ich würde ihn auf jeden Fall auf Diät setzten. Bedächtig streichelte ich weiterhin sein halb verwestes Fell am weichen Bauch. Neugierig hoben sich Swist Lefzen an und seine feuchte, schwarze Nase zuckte, während sie schnupperte. Dann stieß er meine kraulende, linke Hand an.

"Was ist?" Ich schaute neugierig zu ihm herab. Was hatte er jetzt schon wieder? Sollte ich mehr rechts kraulen anstatt links? Ich war doch kein Wellnesshotel.

"Libelle?", begann er und schaute gebannt auf meine Hand. Oh nein. Was kam jetzt? Jedes Mal, wenn er meinen Kosenamen benutzte, war es zu 99,9 Prozent ein schlechtes Zeichen. Es war dasselbe, wenn jemand versuchte, eine schlimmes Sache so positiv auszudrücken wie es eben möglich war, also war es grauenvoll.

"Was ich dir jetzt sage, wird dir nicht gefallen." Na bitte, hatte ich es nicht gesagt? Der Kosename war so etwas wie eine Vorwarnung gewesen. Ich schnaubte und schaute ihm tief in die Augen. Ich konnte es ja doch nicht verhindern und nur weil er es nicht sagen würde, wenn ich ihn darum bitten würde, wäre das, was auch immer er mir mitteilen wollte, nicht automatisch aus der Welt geschaffen. Also, was brachte es schon, ihn jetzt zu unterbrechen?

"Hast du dir in letzter Zeit eigentlich 'mal dein Muster angesehen? Oder an dir gerochen?" Wie bitte? An mir gerochen? Ich wiederholte, was ich gedacht hatte. "An mir gerochen?", fragte ich leicht dümmlich, wie die Angestellten bei McDoof an der Kasse.

"Ja." Ich verzog mein Gesicht zu einer dummen Fratze und roch an meinem rechten Unterarm. Ich stank nicht. Wenn ich ehrlich war, roch ich sogar gar nicht einmal so schlecht. Nur, was war das für ein Geruch? Alice' Duschgel war es nicht, welches ich neuerdings benutzte, seit ich bei ihnen im Versteck eingezogen war. Es war eher etwas Blumiges und leicht Waldiges. Merkwürdig. Und dann sah ich auf mein linkes Handgelenk und zog den Ärmel meines Pullovers ein wenig hinauf.

Augenblicklich war mir speiübel! Und ich schrie, schrie, bis mir die Luft weg blieb und meine Stimme nur noch ein krächzen war.

Heilige Scheiße! Es war schon wieder gewachsen! Aber nicht in dem angenehmen langsamen Tempo, wie ich es mittlerweile gewohnt war, nein, dieses Mal hatte mich mein eigener Körper in einen schockähnlichen Zustand versetzt. Das war zu viel für mein Gehirn. Zu viele Dinge, die einfach keinen Sinn ergaben und die mein Kontrollzentrum nicht zusammensetzen konnte. Was war hier eigentlich los? Dieses doofe Muster, das vor nicht einmal einem Tag nur dreimal mein Handgelenk umschlungen hatte, hatte sich nun bis zu meinem Ellbogen vorgearbeitet und bedeckte meinen gesamten Unterarm.

Das war zu viel! Eindeutig! Wieso wucherte es plötzlich wie Unkraut? Wie lange würde es dauern, bis es meinen kompletten Körper bedeckte? Würde es auch mein Gesicht einnehmen? Meine Augenlider? Bei dem Gedanken schauerte es mir. Ich würde aussehen wie diese Verrückten, die ihren ganzen Körper mit Tattoos bedeckten. Ich könnte mich nie wieder im Spiegel ansehen.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt