Kapitel 35

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Meine Faust schwebte einige Zentimeter vor Lucas' Zimmertür und wartete. Wartete darauf, dass ich endlich den Mut finden würde zu Klopfen und mit vor Nervosität verkrampften Fingern den Türgriff umschließen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Immer wieder und wieder ging ich im Geiste die Worte durch, die ich ihm sagen wollte. Aber würden sie ausreichen? Würde es irgendetwas daran ändern können? Daran, dass ich ihm kurzweilig etwas vorgespielt hatte? Dass ich ihn zutiefst verletzt hatte? Wahrscheinlich nicht.

Ich mochte Lucas, keine Frage, aber konnte ich ihn lieben? So empfinden, wie ich es offenbar für Nicklas tat? Fragen über Fragen, die aus meinem Gehirn eine wabblige, schleimige Masse hatten werden lassen. Es spielte keine Rolle mehr, was ich für ihn empfand oder was ich nicht empfand. Ich hatte seinen Bruder geküsst, seinen allergrößten Feind, vor seinen Augen. Im Grunde meines Herzens konnte ich seinen Zorn verstehen. Wahrscheinlich hätte ich mich selbst auch gehasst für das, was ich getan hatte. Aber ich musste mit ihm sprechen. Musste all dieses Durcheinander beheben! Schließlich ging es hier nicht allein um mich, sondern auch um das, was ich in der Kirche gesehen hatte und um die Buchseiten.

Wir brauchten Antworten und ich war mehr als bereit, alles für diese Antworten zu tun. Mit neugewonnenen Mut schlug ich nun kräftig gegen die Zimmertür, legte meine Hand fest um den Griff und trat mit energischen Schritten in den Raum hinein. Lucas' muskulöser Rücken drehte sich ruckartig in meine Richtung, bis seine Augen die meinen fanden und er erstarrte. "Was willst du hier?", drang seine Stimme kühl durch den Raum.

"Reden."

Ich war selbst überrascht, wie herrisch und fest meine Stimme klang. Lucas lachte auf, nachdem er meine Antwort gehört hatte. "Du willst reden? Na schön, reden wir! Reden wir darüber, wie du mich zum Narren gehalten hast! Darüber, wie du mir unsicher versichert hättest, dass du nur Zeit bräuchtest, dir über deine Gefühle klar zu werden. Darüber, dass du meinen Bruder geküsst hast, dass du dich dem Feind an den Hals geworfen hast! Na, sollen wir darüber reden? Darüber, dass du uns alle verraten hast? Nicht nur mich, sondern auch Alice, Jeremy und all die anderen?", er spuckte mir die Worte entgegen als würden sie seine Zunge vergiften, wenn er sie nicht hinausschrie.
"Claire hatte von Anfang an recht. Ich war zu närrisch, um das sehen zu können. Ich wollte es mir nicht eingestehen."

Betroffen schüttelte er seinen schönen Kopf hin und her. Seine Schultern verloren an Spannung und sackten in sich zusammen. Von dem starken, großen Lucas war nur noch ein Häufchen Elend geblieben. "Wie Liebe einen blind machen kann." "Nein Lucas! Hör' mir zu. So war das alles nicht.", verzweifelt versuchte ich, Klarheit zu schaffen. Das konnte er alles unmöglich ernst gemeint haben. "Ach nein?", spottete er gehässig. Langsam gewann er wieder an Körperspannung und seine traurigen Gesichtszüge verhärteten sich, bis sie sich in die altbekannte Maske zurückgewandelt hatten.

"Erspar' mir das, Felina! Ich hab' endgültig genug von deiner Lügerei und deinen Intrigen. Eigentlich hätte ich dich schon längst dem Rat übergeben müssen. In Ketten, versteht sich. Aber ich will nach wie vor die Buchseiten. Und wenn dir dein Leben lieb ist, wirst du sie mir bringen, komme, was wolle! " Er sah mich mit eisernem Blick an.

Irgendwo, tief in dem harten Lucas, der mir gerade entgegen kam, war der echte, liebevolle Lucas. Der Lucas, den ich so sehr mochte. Ja, so sehr, dass ich nicht sagen konnte, wen von beiden ich lieber hatte, ihn oder Nicklas. Aber der Lucas, der mir jetzt begegnete, war der letzte Mensch, dem ich irgendetwas geben wollte. Geschweige denn die Buchseiten. Trotzig schob ich mein Kinn vor und blickte ihm unverwandt in die Augen. Sollte er ruhig merken, dass er mich nicht in die Knie zwingen konnte. "Du bist nicht du selbst.", sagte ich mit fester Stimme. "Du bist soweit von dir selbst entfernt, das du nicht einmal merkst, dass du dir vor lauter Zorn das T-Shirt angekokelt hast."

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt