Kapitel 15

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Fühlte es sich so an zu sterben? War ich nun endgültig tot? Auf so eine bizarre, unverständliche Art und Weise? Eine Schwärze umgab mich, die mich Zeit und Raumgefühl vergessen ließen. Wenn man nach seinem Tod in den Himmel oder in die Hölle kam, dann musste ich wohl auf den Weg in die Hölle sein.

Kein Licht. Keine Wärme. Nur eisige Kälte und schmerzende Handgelenke.

Moment mal? Wie konnten mir meine Hände wehtun, wo ich doch nun keinen Körper mehr hatte? Ich war gestorben. Ob es wohl noch ein Nachklang meiner Schmerzen waren, die ich während meines Todes empfunden hatte?

Etwas Warmes lief an meinen Armen hinab und erschrocken riss ich die Augen auf. Ich blinzelte und musste mich erst einmal an die neu gefundene Helligkeit gewöhnen. Es war elektrisches Glühbirnenlicht und nicht göttliches, erlösendes Licht, wie ich es erwartete hatte.

Gespannt sah ich mich um und musste feststellen, dass ich mich erneut in der Zelle befand, in die Nicklas mich eingesperrt hatte. Meine Hände waren über meinem Kopf in Eisenketten gehüllt und die Kerze, die mir zur Flucht verholfen hatte war wie weggezaubert. Die warme Flüssigkeit, die mir den Arm hinunter lief, war nichts anderes als mein Blut, das sich aus einer Schürfwunde, entstanden durch die Ketten, gebildet haben musste.

Ich lebte noch. Dunkle, schwarze Haare umrahmten mein Gesicht und meine Füße steckten in ihren Schuhen. Meine Beine waren in einer schwarzen Hose und meine Lederjacke war dort, wo sie hingehörte.

Doch mir tropfte eiskalter Schweiß von der Stirn und meine Augen waren seltsam geschwollen. Ich musste während meines verrückten Traumes geweint haben, oder was auch immer das gerade eben gewesen war. Aber ich war nicht tot.

Nicklas trat in den Schein der Lampen und sah mir in die grünen Kontaktlinsen. Seine Augen waren geweitet und seine Gesichtszüge waren merklich verzogen. Er wirkte gehetzt und ausgebrannt. Was er die Nacht wohl getrieben hatte?

Bei meinem Anblick schien er für einen Moment zu erstarren und sein gehetztes Gesicht veränderte sich zu einem sorgenvollen, grübelnden Ausdruck. Ich musste wirklich bemitleidenswert aussehen. Aber wer konnte schon behaupten, gestorben und dann wie durch ein Wunder wieder am Leben zu sein? Wenn das nicht einen mitnahm, was dann? Also durfte er sich ruhig schuldig fühlen.

"Was ist passiert?", fragte er heiser und vergaß dabei anscheinend, wer mich eigentlich verschleppt und eingesperrt hatte.

Meine Stimme war merkwürdig kratzig und leise. "Was soll schon passiert sein? Du hast mich hier eingesperrt wie Schlachtvieh. Was erwartest du? Wie soll ich dann deiner Meinung nach aussehen?" Erschrocken zuckte er zusammen, kam dann aber auf meine Zelle zu.

Mit schnellen Handgriffen entriegelte er das elektronische Schloss und betrat den kleinen, modrigen Raum, an dessen Steinmauer ich gekettet war. Seine Bewegungen waren fließend und unglaublich schnell, er packte mich an den Gelenken und entfesselte meine Hände, sodass ich sie angenehm an meinen Körper pressen konnte. Schmerzlich rieb ich mir die Gelenke und wischte mir das Blut von den Armen.

"Ich mache das aus nur einem einzigen Grund!", zischte er mir entgegen. "Und zwar nur, um meinem Vater zu gefallen. Also tu' mir den Gefallen und sieh' mich nicht so an."

Mir stockte der Atem. Wer auf diesem Planeten brachte bitte Menschen um, nur um vom Vater akzeptiert zu werden? In was für einer schrägen Welt lebte ich eigentlich? Aber Nicklas schien es bitterernst zu sein. In seinen Augen stand die pure Entschlossenheit und sein Körper spannte sich bei seinen Worten an. Wieder überkam mich eine Woge des Mitleids. Nicklas tat die ganzen Dinge nicht, weil er sie als richtig empfand, sondern weil er hoffte, seinem Vater dadurch etwas geben zu können, dass ich nicht verstand. War es Loyalität oder etwas anderes?

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt