Kapitel 34

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Etwas rüttelte und schüttelte an mir, als sei ich ein Sandsack und kein menschliches Wesen. Lauter werdendes Gemurmel drang an meine Ohren und helles Licht beschien meine Augenlieder, bis ich die kleinen Äderchen durchscheinen sehen konnte. "Stirb' nicht.", hörte ich eine bekannte Stimme sagen und erneutes Ruckeln an meinen Schultern ließ mich meine Augen öffnen. "Ich dachte, wir hätten das Thema abgeschlossen. Ich sterbe dadurch nicht.", erwiderte ich genervt, ehe ich mich aufrichtete. Irgendjemand musste mich auf ein Bett gelegt haben. Vor mir sah ich die vor Sorge weit aufgerissenen blauen Augen eines jungen Mannes und das zerzauste blondes Haar, das ihm in die Stirn fiel.

"Nicklas?"

Verwirrt sah ich mich um. Ich lag tatsächlich auf der Krankenstation. Anscheinend musste mein körperlicher Zustand dieses Mal so gravierend gewesen sein, das man mich deshalb extra auf die Krankenstation hatte bringen lassen. Nicklas Oberkörper war weit über meine Gestalt gebeugt und sein heißer Atem streifte meine Schläfe. Augenblicklich schoss mir das Blut in den Kopf und ich hatte Sorge, dass mir das Herz aus der Brust springen würde, wenn er mir nur einen Zentimeter näher kommen würde. Gebannt starrte ich mit feuerroten Wangen auf seine weichen Lippen und sein markantes Kinn.

Wenn es mir möglich gewesen wäre die Zeit anzuhalten, so hätte ich es ohne Zweifel in diesem Moment getan. Ich wollte alles von ihm einfangen, jedes noch so kleine Detail, jeden Geschichtszug, jedes Haar und jeden Sprenkel in seinen tiefblauen Augen. Wäre mein Körper nicht halb eingeschlafen und hätte so meine Bewegungsfreiheit eingeschränkt, hätte ich ihn mit Sicherheit gierig zu mir heruntergezogen und ganz hollywoodreif geküsst. Gott sei Dank hatte ich es nicht gekonnt. Danach wäre ich sicher fast vor Scham gestorben.

Anscheinend erleichtert über mein Aufwachen ließ sich Nicklas auf den Stuhl neben meinem Bett fallen. Mit seinen großen Händen fuhr er sich durch sein Haar und stützte seinen Kopf auf ihnen ab. "Mein Gott. Ich dachte wirklich, du wärst gestorben. Es hat mir fast das Herz zerrissen, dabei weiß ich nicht einmal, warum. Ich kenn' dich doch gar nicht! Warum liegst du mir nur so sehr am Herzen?" Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

"Vielleicht, weil du ganz tief in deinem Inneren weißt, das du mich kennst? Wahrscheinlich länger, als es mir selbst bewusst war." Meine Augen fixierten ihn, nahmen ihn gefangen. Mit einer Hand stützte er sich auf der Bettkante ab und beugte sich zu mir herunter. Langsam kam sein Gesicht dem meinen näher. Seine blauen Augen, die einem Ozean glichen, ließen mich nicht eine Sekunde an etwas anderes denken als an ihn. Wie er aussah, was er für gemeine Dinge sagen konnte und wie unglaublich schön es war wenn, er liebevoll mit mir sprach. Stück für Stück näherte er sich mir, bis ich den inneren Drang in mir nicht länger zügeln konnte und die letzten Zentimeter, die unsere Lippen von einander trennten, überbrückte.

Meine warmen Lippen trafen auf die seinen. Es war ein unglaublich berauschendes Gefühl. Ich hatte meine neue Droge gefunden und sie trug ganz eindeutig seinen Namen. Nicklas. Zärtlich fuhr er mit seiner Hand durch mein Haar, über meine Schläfe bis hinunter zu meinem Kinn, das er anhob und mich so ihm entgegen streckte. Ich weiß nicht mehr wie lange unser Kuss anhielt, aber für mich war es eine kleine Ewigkeit, die niemals hätte enden müssen.
Schließlich löste er seinen Mund von meinem und schreckte leicht zurück. Erneut fixierten mich seine stechenden Augen und fassten mich in ihren Bann. Die Welt hätte draußen entzwei brechen können und es wäre mir in diesem Moment egal gewesen. Alleine ihm und seinen verführerischen Lippen galt meine komplette Aufmerksamkeit. Wie lange hatte ich mich nach diesem Moment gesehnt?

Mit einem lauten Knall schlug die Tür zur Krankenstation gegen die Wand und ließ Nicklas und mich zusammenzucken. Lucas stand wie versteinert in der Tür und sah uns mit einem starren Blick an. Hatte er uns gesehen? Panik machte sich in mir breit. Was mochte Lucas denken, wenn er mich mit seinem Bruder knutschend auffinden würde? Würde er uns beide hassen? Oder nur seinen Bruder, zu dem er sowieso schon ein schlechtes Verhältnis hatte? Meine Gedanken überschlugen sich binnen weniger Sekunden. Von Wolke sieben mit einem filmreifen Absturz auf dem steinernen Boden der Realität gefallen, in nicht einmal zwei Sekunden. Das war mein persönlicher Rekord. Verzweifelt sah ich, wie sich Lucas ohne ein Wort zu sagen umdrehen wollte, um den Raum fluchtartig zu verlassen.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt