Während der langen Fahrt in Nicklas' Geländewagen war ich aufgrund meiner Kopfverletzung kurz weggetreten. Wahrscheinlich hatte ich eine geringfügige Gehirnerschütterung erlitten, was nur verständlich war, wenn ich mir Nic's Dickschädel einmal genauer ansah.In der Zeit, in der ich vor ihm geflohen war, hatte auch er sich innerlich wie äußerlich verändert. Von dem scherzenden, pubertierenden Jungen, wie ich ihn kannte, war nicht mehr die leiseste Spur vorhanden. Ihm war ein gefährlicher, gefühlskalter Mensch gewichen, der keine Skrupel hatte, einem Mädchen die Wade zu brechen. Ich bereute nicht, was ich getan hatte, ärgerte mich aber darüber, was aus Nicklas geworden war. Wo war der Junge geblieben, der mich vor Miss Mayer in Schutz genommen hatte, der keine unschuldigen Menschen ermorden wollte? Dessen blaue Augen vor Leben gesprüht hatten?
Verzweifelt versuchte ich in seinem Gesicht etwas von dem spitzbübischen, neckischen Jungen zu finden, stieß jedoch nur auf eisige Kälte und steinharte Züge. Sein Blick war stur auf die Fahrbahn gerichtet und seine Hände umklammerten das Lenkrad.
"Hör auf, mich so anzustarren!", fuhr er mich an, ohne mir in die Augen zu sehen. Schnell wendete ich meinen Blick von ihm ab und schaute aus dem Wagen. "Es ist nur, du hast die verändert.", flüsterte ich, um ihn nicht noch mehr zu reizen als ich es ohnehin schon getan hatte.
"Pah! Das sagt die Richtige. Was ist aus deinen braunen Haaren und den dunklen Knopfaugen geworden?", erwiderte er spöttisch. Für einen Moment glaubte ich, ein Lächeln erkennen zu können, doch es erstarb in demselben Moment, in dem es erschienen war.
"Sie sind einer zweckmäßigen Notwendigkeit gewichen." Es war das erste Mal, dass er von der Straße aufschaute und mir in die grünen Kontaktlinsen blickte. Doch dann wendete er seinen Blick wieder ab, stur auf die Straße gerichtet.
"Was haben sie mit dir gemacht, dass du so geworden bist?", traute ich mich zu fragen. Ich wollte wissen, was ihm den letzten funken Wärme geraubt hatte, den er vor ein par Wochen noch besessen hatte. Nicklas war schon immer anders gewesen, hatte immer diese Härte und beinahe militärische Ausstrahlung besessen, aber was war aus den Scherzen geworden, die mich genervt hatten, was aus seiner arroganten Haltung, die mich in den Wahnsinn getrieben hatte und aus seiner Hartnäckigkeit, die mich beinahe mein Geheimnis gekostet hatte, geworden? Er war sehr lebendig gewesen und diese Lebendigkeit war nun wie weggeblasen. Als hätte es nie einen Nicklas Lithgow gegeben. Als hätte ich ihn mir nur eingebildet.
"Ich war schon immer so.", antwortete er mit lebloser Stimme, beinahe wie eine Maschine. Ich merkte, wie mein Körper bei seinen Worten zusammenzuckte und mir eine warme Träne die Wange hinunter rann. "Das glaub ich dir nicht.", piepste ich und schaute erschrocken im den Seitenspiegel des Fahrzeuges, indem sich mein Gesicht spiegelte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich nicht um meinetwillen weinte, sondern um seinerwillen wegen. Eine heiße Träne folgte der anderen, ohne dass mein Körper erbebte oder mir ein Schluchzen entfuhr. Sie rannen einfach nur leise hinunter, in Gedenken eines Jungen, den ich einmal gekannt hatte. Nicklas schaute mich verwirrt an, beinahe stand in seinem Blick das pure Entsetzen, doch dann faste er sich wieder und ignorierte mich den Rest der Fahrt lang, als sei ich ein Geist. Etwas, das nicht wirklich für ihn existierte.
Die Umgebung, die an den Scheiben des Wagens vorbei huschte, würde wohl das Letzte sein, was ich von der Natur zu Gesicht bekommen würde. Ich versuchte mir krampfhaft alles vorzustellen, was ich in meinem bisherigen Leben erlebt und gesehen hatte, gute sowie schlechte Erinnerungen.
Sie huschten wie die Landschaften vor meinem inneren Auge vorbei. Bilder von Gereg, wie er mir das Fahrradfahren beibrachte, Nele und die anderen, wie wir uns kennenlernten in der 1. Klasse; mein Vater, wie er mit Gereg Fußball im Garten spielte, als er noch lebte; meine Mutter, wie sie Weihnachtsplätzchen backte und Gereg beim Stibitzen auf die Finger schlug; mein Vater, als er im Krankenhaus starb, zusammen mit der Erinnerung an die verzweifelte Mine meiner Mutter und an Gereg, der sein Zimmer zu Kleinholz verarbeitete.
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ROT - Die Farbe meiner Tränen, Leseprobe
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