Wie Lucas versprochen hatte wurde Nicklas von einem Arzt ordnungsgemäß untersucht und dementsprechend auch medizinisch behandelt. Die Zwillinge hatten ihn mit tatkräftiger *hust* Unterstützung von Swist in den Krankentrakt verlegt und dort auf eines der Betten gehievt.Ja, wir hatten tatsächlich einen Raum, ausschließlich für die Versorgung von Verwundeten und Kranken. Ein Raum mehr, dem ich den Grundriss des Verstecks hinzufügen konnte. Der Raum hatte die Form eines langen Schlauches, an dessen Wänden alle zwei Meter ein Krankenbett aufgestellt war, und ein großes Panoramafenster an der Decke ermöglichte den Patienten nachts den traumhaften Anblick des Nachthimmels. Dieses Fenster war aber auch alles, was dem Raum Charme verlieh, sonst erinnerte er mich mit seiner Form und Einrichtungen mehr an das Feldlager einer militärisch-medizinischen Einrichtung.
Neben jedem Bett stand ein kleines Schränkchen, ausgestattet mit einer kleinen Lampe und einer Schublade, gefüllt mit den wichtigsten Instrumenten der medizinischen Erstversorgung. Nicklas' Körper lag auf einem Bett nahe der Tür und war ungewohnt blass. Seine Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet und geschwollen, seine Haare zerzaust und sein linkes Bein unnatürlich verdreht. Der Mann, der es sich vor seinem Krankenbett gemütlich gemacht hatte, hatte ihm vor einigen Minuten etwas gegeben, dass ihn in diesen todesähnlichen Zustand versetzte.
Die faltigen und mit Altersflecken übersäten Hände des Mannes tasteten vorsichtig Nicklas Bein und seine Wunde an der Stirn ab. Um seinen Hals baumelte ein grünes Stethoskop und seine Schultern wurden von einem weißen Kittel bedeckt. Ich beugte mich leicht nach vorne und streifte Alice' Schulter, während ich versuchte, ihr etwas ins Ohr zu flüstern. "Geht das denn in Ordnung? Ich meine... was ist, wenn er Fragen stellt?"
In meinem Kopf hatte sich die Szene eines polizeilichen Sondereinsatzkommandos gefestigt, die mit Rauchbomben und Maschinengewehren die Bude stürmten und uns alle wie eine terroristische Verbrecherbande in Handschellen abführen würden. Unsere Versuche, ihnen zu verstehen zu geben, dass es sich hierbei lediglich um ein Missverständnis handelte und wir gar keine verfeindeten Drogenbanden waren, die sich eins auszuwischen versuchten, sondern es sich hier um einen Jahrhunderte alten Krieg zwischen Jägern und Gezeichnete handelte, in den sie sich nicht einzumischen hatten. Das kam bestimmt so gut an wie der Versuch, einen Jumbojet als feuerspeienden Drachen zu verkaufen. Genau, Endstation Klapsmühle. Alleine bei der Vorstellung bildeten sich kleine Schweißperlen auf meiner Stirn und ich schluckte schwer.
Alice hingegen kam nicht umhin, sich über mich zu amüsieren und hakte sich schmunzelnd bei mir unter. "Keine Sorge, er ist einer von uns. Lucas hat ihn höchstpersönlich aus der Stadt hierher beordert." Sie zwinkerte mir zu. Erleichtert atmete ich auf, denn ohne es zu merken hatte ich anscheinend die Luft angehalten.
"Also..." Der Mann mit den weißen Haaren und dem weißen Kittel erhob seine Stimme und ließ die Gummihandschuhe, die er gerade übergestreift hatte, flippen. Es gab ein unangenehm klatschendes Geräusch auf seiner Haut. "...die Wunde an der Stirn des jungen Mannes ist äußerst tief, wodurch sich eine retrograde Amnesie nicht ausschließen lässt. Das heißt, er könnte durchaus unter einer zeitlich begrenzten Erinnerungslücke leiden. Der Teil des Gehirns, der ganz offensichtlich für das Ermöglichen des Alltags verantwortlich ist, wurde nicht beschädigt. Er weiß, wie man einen Kugelschreiber benutzt und auch, wie die Hauptstadt Englands heisst. Eine normales Leben dürfte er daher, auch wenn seine Erinnerungen nicht zurückkehren, problemlos führen können."
Ich hielt mir vor Schreck die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien. Lucas schien mit der Diagnose ebenso seine Probleme zu haben. Seine Hände waren, wie üblich, wenn er wütend war, zu Fäusten geballt und glühten bedrohlich rötlich. "Kannst du da nichts machen? Ich kann ihn nur gebrauchen, wenn er sich an alles erinnern kann, so ist er vollkommen nutzlos! Was soll ich mit einem normalen Menschen? Da ist ein Außenstehender genauso viel Wert." Aufgebracht raufte er sich die nussbraunen Haare.
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ROT - Die Farbe meiner Tränen, Leseprobe
FantasyBand 1 ROT Trilogie, Leseprobe Das Buch erschien im Juli 2021 als Zweitauflage beim Wreaders Verlag Jäger, Exorzisten, Späher, ein mysteriöses Tattoo und ein frecher Höllenhund stellen Felina Morris' Leben in kürzester Zeit auf den Kopf. Die 16jähr...