Kapitel 27

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"Würde mir jetzt mal bitte einer erklären, was eigentlich genau vorgefallen ist?" Verärgert schaute ich in die versammelte Runde. Jeremy wich meinen Blicken aus und schaute dafür direkt in Luca's Augen. Alles schien sich nur um Mister Wichtig zu drehen. Aber auf eine erneute Auseinandersetzung mit Lucas war ich nicht gerade aus, die Unterhaltung vor einigen Stunden vor dem Gemeinschaftsraum hatte mir für heute und die kommenden Tage erst einmal gereicht. Wer wusste schon, wo das sonst noch alles hinführen würde?

Hoffnungsvoll sah ich zu Alice, die neben mir saß. Wenn einer noch bei Verstand war, dann ja wohl unser kleiner, süßer Rotschopf. Ihre lange Lockenmähne hatte sie im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden, aber einige Strähnen fielen ihr noch wirr ins Gesicht, wenn sie sich vorbeugte. Nervös nestelte sie an ihren Strähnen herum und betrachte ganz interessiert ihre Fingernägel, als wären sie das Eindrucksvollste auf dem Planeten. Die ganze Situation kam mir eindeutig wie ein Déjà-vu vor. Hatte ich diese Situation nicht schon einmal durchlebt? Nur mit einem anderen Thema?

Mittlerweile von meinen "Freunden" genervt riss ich mich zusammen und sah Lucas tief in die Augen. Er mochte mich ja mehr als ich es mir erhofft hatte, vielleicht konnte mir das auch einmal zu Nutze sein. Ich legte in meine Stimme alle Wärme, die aufbringen konnte, klimperte ein wenig kokett mit meinen langen Wimpern und beugte mich zu ihm vor, bis meine Brüste fast aus meinem Oberteil gepurzelt wären. "Du kannst nicht alles vor mir verbergen.", sagte ich zu ihm, in einem Verständnis heuchelnden Ton.

Es dauerte einen kurzen Moment, ehe er die Doppeldeutigkeit meines Satzes und die Anspielung auf unser vorheriges Gespräch verstanden hatte. Sein Gesicht wurde mit einem Mal bleich wie das einer Leiche und seine Augen blicken sich erschrocken um. Dann räusperte er sich.

"Wir haben Nicklas in Gewahrsam genommen. Er hat uns bei einem neuen Gezeichneten aufgelauert und uns hinterrücks angegriffen. Der Gezeichnete, den wir in Sicherheit bringen wollten, kam dabei beinahe ums Leben. Wir konnten ihn gerade noch retten und unter Schwerstarbeit in die Stadt bringen. Wir währen beinahe zu spät gewesen! Nur zwei Minuten später und..." Er stockte. Bei dem letzten Satz schlug er verärgert mit der Faust auf die Holzplatte des Wohnzimmertisches. Alice und die Anderen zuckten bei dem Aufprall zusammen, sagten jedoch nichts. Alleine in Alice' Augen konnte ich ihr Bedauern und ihre Trauer lesen. Sie war von den Geschehnissen noch komplett verstört und merkte nicht einmal, wie Jeremy ihr ständig besorgte Blicke zuwarf und mit der Hand von seinem Sofa aus nach ihr zu greifen versuchte, so als wolle er ihr Sicherheit vermitteln.

"So etwas würde er nicht tun! Nicklas macht sowas nicht!" Erst als ich die Worte ausgesprochen hatte fiel mir auf, das ich sie laut gesagt hatte. Aber ich war mir so sicher! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Nicklas jemanden halb tot prügeln konnte, geschweige denn hinterrücks ermorden wollte. Immerhin hatte er mir geholfen und irgendwo, tief in ihm drin, war er noch der Junge, den ich kennen gelernt hatte. Der aus mir die Furie herauskitzelte wie kein anderer und dessen Lächeln mich glatt süchtig machte. Der Nicklas, von dem sie alle sprachen, den gab es nicht! Zumindest wollte ich, dass es so war.

"Doch, das hat er! Kaltblütig wie ein ausgebildeter Jäger! Wie die Monster, die sie sind!"

Tränen traten mir in die Augen und drohten mir über die heißen Wangen zu fließen. Lucas log! "Ich kenne ihn! Nicklas ist kein Monster. Ihr verurteilt ihn, ohne ihn richtig zu kennen! Wenn er nicht gewesen wäre, dann wäre ich längst ausgeblutet worden und anschließend verbrannt!" "Wenn er nicht gewesen wäre, wäre es erst gar nicht so weit gekommen!", schrie Lucas zurück. Ein Wimmern blieb mir im Hals stecken. In diesem Moment sah Lucas einem Monster ähnlicher als jener, dem er es unterstellte. "Und damit nicht genug!", fuhr Lucas fort. "Er ist auch noch ein Feigling, der, nachdem er realisierte, dass er verlieren würde, vortäuschte, eine Amnesie zu haben! Nicklas ist nicht nur skrupellos sondern auch ein elender Feigling!" "Erzähl' kein' Scheiß!", fuhr ich ihn an. "Nicklas weiß, wer er ist! Lediglich seine Sichtweise auf die Ereignisse geriet durch die Gehirnwäsche der Jäger manchmal durcheinander. Aber er ist kein schlechter Mensch!" Alice schüttelte bedauernd den Kopf. "Es tut mir leid Lina, aber Luc hat recht. Er versucht uns vorzuspielen, nicht mehr zu wissen, wer er ist und was er in seinem Leben getan hat. Nicht einmal mehr die Jäger will er kennen, geschweige denn die Gezeichneten." "Er kann sagen was er will. Ich weiß, wer er ist und was er alles getan hat. Immerhin kenne ich ihn besser als jeder andere!", fluchte Lucas.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt