Kapitel 23

636 59 5
                                    


"Sssssommm.........sommeee......Sommer.", las Fredo aus dem Buch vor, das sein Freund auf einem Markt stibitzt hatte. Er und sein Freund Freddi hatten mich gebeten, ihnen in meiner Pause das Lesen beizubringen. "Ja, richtig." ,sagte ich und lächelte ihn aufmunternd an. "Das wird doch schon immer besser. Was ist das noch 'mal für ein Buchstabe?", fragte ich die beiden, die fast jedes meiner Worte verschlangen. "Ein "d" ?" Ich schüttelte den Kopf. "Fast." Beide überlegten schwer.

"B.", sagte Freddi lächelnd. "Stimmt. Absolut korrekt." Ich schlug eine Seite um. "Den Satz hier müsstet ihr schon lesen können. Ich hab' euch gerade jedes Wort davon einzeln lesen lassen.", sagte ich mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich war selbst davon überrascht, wie viel Spaß es mir machte,  den beiden das Lesen beizubringen. Ich war immer noch geschockt davon, wie merkwürdig es am Anfang war, Siebzehn- und Achtzehnjährigen im Lesen zu unterrichten. Aber mit der Zeit hatte sich dieses Gefühl gelegt, mit jedem Mal, bei dem sie etwas neu Gelerntes richtig umsetzten. Es war wie mein eigener, kleiner Triumph.

"Versucht mal beide, diesen Satz nacheinander zu lesen." Beide lasen den Satz etwas stockend, aber mit jedem Mal,  mit dem ich sie ihn wiederholen ließ, wurden sie besser und besser, bis sie ihn flüssig lesen konnten. Ich wiederholte die Übungen mit verschiedenen Textausschnitten. "So. Jetzt muss ich aber wieder zurück in die Küche, bevor ich heute Abend wieder rote Wangen habe.", sagte ich lachend und erhob mich von dem Strohballen, auf dem ich mich niedergelassen hatte. Die beiden verabschiedeten mich mit strahlenden Gesichtern und übten zusammen weiter, was ich ihnen aufgetragen hatte. Undenkbar, dass man die Menschen hier mit Absicht nichts lehrte. Zumindest hatte ich den Adeligen damit einen kleinen Strich durch die Rechnung gemacht.

Mit Sicherheit war es verboten, den Menschen aus dem 17. Jahrhundert einfach so das Lesen zu lehren, aber ich fand, dass jeder, der lesen wollte, auch lesen können dürfte. Egal, was irgendein Gutsherr oder Earl dazu zu sagen hatte. Und als ich die Küche betrat, wurde ich auch schon kurzer Hand für das Einschänken eingeteilt, zusammen mit Myra, Gwendolyn und natürlich Shirley, die mich mit bösen Blicken bedachte.

"Ich hab' gehört, du hättest dich heute Morgen bei den Ställen ausgezogen. Stimmt das?", fragte mich Gwendolyn, als wir uns mit den Krügen zu der Halle begaben, in der der König mit seinen Gästen speiste. So funktionierte also stille Post! Ausgezogen! Da ging wohl mit den jungen Burschen die Fantasie durch.

"Ich hab' mich nicht ausgezogen. Vollkommener Irrsinn!", versicherte ich ihr, ehe wir die Halle betraten. Und noch im selben Moment glaubte ich zu träumen.

Aber es war ein Alptraum.

Die Tafel war bis auf den Rand mit Köstlichkeiten bestückt, um die der König, seine Höflinge und die neu angekommenen Gäste saßen und zulangten. Aber all das blendete ich aus. Es zog an mir vorbei wie ein Stummfilm, dessen Augenmerk auf eine einzige Person konzentriert war. Eine Person mit glänzendem, schwarzen Haar, ebenso tiefschwarzen Augen und einem markanten Gesicht, das einem den Atem raubte. Er war schön, wenn nicht sogar mehr als das. Jedes Fotomodell wäre neben ihn erblichen, ganz ohne Zweifel. Gwendolyn stieß mir in die Seite und zwang mich so zum Weitergehen.

"Sagt'  ich nich' , dass er n' hübscher Recke is'?", flüsterte sie dabei. Mir war es ganz gleich, ob er ein Sahneschnittchen war oder nicht. Und wenn er eine fette, dicke Warze auf seiner graziösen Nase gehabt hätte und fettleibig gewesen wäre, es wäre mir gleich gewesen.

Mir stockte aus einem völlig anderem Grund der Atem. Ich kannte den Mann! Ich hatte ihn bereits gesehen, Verwechslung ausgeschlossen! Diese dunklen Augen mit ihrem stechenden, bösartigen Blick würde ich mein Lebtag nicht vergessen, wenngleich sie jetzt auch spitzbübisch blitzten. Um seine Mundwinkel spielte ein angenehmes Lächeln und seine Wangen waren leicht vor Freude gerötet. Aber ich wusste es besser. Dieser Mann war ein Monster. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, hatte er in einem kleinen Garten auf einer verschnörkelten Bank gesessen und mit den beiden Männern gesprochen, die mich wenige Minuten später geköpft hatten. Oder viel mehr den Körper, den ich unfreiwillig bewohnt hatte.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt