Epilog

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Seine maskuline Silhouette ragte in der dunkelsten Gasse von ganz London auf. Wie oft war er diesen Weg schon gegangen? Sicher unzählige Male. Alleine im 18. Jahrhundert  hatte er sehr häufig den Wunsch verspürt, Ihn zu sehen. Was sie beide zusammen führte war etwas, das sie auf eine gewisse Weise verband: Der Wunsch, nach Höherem zu streben. Gottgleich.

Ein teuflisches Lächeln umspielte seine Lippen. Es war eine Schande, das ihm das kleine Mädchen durch die Finger gerutscht war, aber er würde schon noch bekommen, was er wollte. Dennoch, dieses Mädchen war anders als all ihre Vorgänger. Er würde Ihn fragen müssen, was an diesem Mädchen so besonders war, warum es ihr gelungen war, ihren Körper zu verlassen. Er hatte das ganze genau beobachten können. Als dem wertlosen, alten Müll das Leben ausgesaugt wurde, hatte nicht nur er allein den Tod gesehen. Auch die Kleine hatte sie gesehen und noch schlimmer. Sie hatte sich von ihrem Körper gelöst, war als Seele durch den Raum geflogen und hatte seine Erinnerungen und Emotionen gestohlen.

Nicht, dass ihm etwas an dem Plunder läge. Doch war es ihm unangenehm, das sie das Amulett gegen ihn verwenden könnte. Er war so nah dran gewesen, unsterblich zu werden. So nahe! Verärgert schnalzte er mit der Zunge. Jahrelange Arbeit hatte dieses kleine Mädchen in nicht einmal drei Wochen zunichte gemacht.

Er bog um eine Ecke, lief eine kleine Kellertreppe hinunter und klopfte an der morschen Holztür. Ein großer, fünfzackiger Stern ragte über den verwitterten Brettern. Er war in das Holz geschnitzt worden. In den letzten hundert Jahren hatte sich nichts getan. Die Tür war an exakt denselben Stellen morsch und grün angelaufen und derselbe kleine Junge trat aus ihr heraus. Die kindliche kleine Stubsnase kräuselte sich und die kugelrunden braunen Augen sahen verstohlen zu ihm hinauf. "Du schon wieder.", sagte der kleine Junge abfällig und öffnete ihm die Tür.

"Schon wieder ist hundert Jahre her.", entgegnete er und schob den Jungen zur Seite wie eine lästige Fliege. "Nur ein Flügelschlag." Der kleine Junge zuckte gleichgültig mit den Schultern. Er konnte den Jungen nicht leiden, aber das konnte er noch nie. Schon damals empfand er ihn als geradezu lästig. Auch das Innere des Raumes hatte sich nicht verändert. Jeder Kolben, jedes Reagenzglas und jeder Messbecher stand da, wo er noch vor hundert Jahren gestanden hatte und davor die Jahrhunderte war es auch schon so gewesen. Im Grunde hatte sich nichts verändert, seit er Ihm zum allerersten Mal begegnet war.

Kerzenlicht erhellte den Raum und schaffte eine vertraute Atmosphäre. Natürlich waren alle Kerzen aus schwarzem Wachs gezogen. Er hatte ihm einmal erzählt, dass es sich dabei um die verkauften Menschenseelen handele, die er erworben habe. Denn sobald eine Kerze bis auf das Ende des Dochtes abgebrannt war oder ein Windstoß eine Kerze ausblies, materialisierte sich das Gesicht des Menschen, dessen Seele mit der Kerze verbunden war. Das Gesicht schrie dann lautlos auf, bis die Seele in die tiefsten Abgründe der Hölle gezerrt wurde und sich der Rauch verflüchtigte.

Das Gesicht einer jungen Frau flackerte in einer Rauschwade auf. Ihr Mund war weit aufgerissen, ihre Augen spiegelten ihr Entsetzen wider und ihre langen Haare schlangen sich um ihren schlanken Hals. Noch eine ganze Weile riss sie ihren Kopf hin und her, bis sich der Rauch auflöste. Nun war sie in der Hölle angekommen. Aus reiner Langweile lecke er sich Daumen und Zeigefinger an, ging auf eine Kerze zu und löschte eine Flamme, indem er sie zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückte. Rauch entstand und das Bild eines alten Mannes flackerte auf. Der kleine Junge warf ihm einen bösen Blick zu. Er lächelte.

"Ärgerst du schon wieder Cerviel?" Ein hoch gewachsener Mann, größer als er selbst, betrat den Raum. Er hatte goldenes Haar, eine eigenartig fluoreszierende Haut und Augen wie die untergehende Sonne. Er trug eine schwarze Lederhose und ein lockeres schwarzes T-Shirt, das einen Teil seines Rücken entblößte. Zwei tiefe, große Narben prangten auf seinen Schulterblättern. "Wie ich sehe, bist du immer noch sterblich." Er lief auf die Kerze zu, die der Heilkundige hatte erlöschen lassen, schnipste mit seinen Fingern und das Gesicht des alten Mannes entspannte sich, bis es sich in der Flamme verlor.

"Dieses kleine Mädchen ist gerissener, als ich es vermutet hatte.", maulte er und ließ sich in eine der einladenden roten Samtsessel aus dem 17. Jahrhundert fallen. "So, so." Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes. "Die Kleine kann ihre Seele von ihrem Körper trennen und sich frei bewegen.", fauchte der Heilkundige. Sein Gegenüber nickte nachdenklich. "All die anderen zuvor konnten nur ihren Geist in den Körper einer anderen Person transferieren und im besten Fall in eine Person aus längst vergangenen Zeiten. Aber das..." Er gestikulierte wild mit seinen Händen. "...ist absolut neu." "Oder sie konnten es schon die ganze Zeit und wussten es nicht. Das würde auf jeden Fall zu dem Tod passen. Sie steht auf Spielchen." Der Mann lachte herzhaft.

Für einen Moment fiel der Blick des Heilkundigen auf seine polierten Herrenschuhe, in denen sich das Kerzenlicht spiegelte. Dann sah er den Mann vor sich an. "Wir müssen uns etwas einfallen lassen, Lucifer.", sagte er und blickte in die roten Augen seines Gegenübers. Lucifer lachte und ließ in seiner Hand eine Miniaturausgabe von Felina erscheinen. Sie bestand aus schwarzem Feuer. Quälend langsam zerdrückte er das Mädchen, bis das schwarze Feuer zu Staub zerfiel und aus seiner Faust rieselte.

Sie lachten.




So, damit sind wir offiziell am Ende des ersten Teils angekommen :D Ich hoffe das es euch allen gefallen hat und das ich euch eventuell im zweiten Teil wieder begrüßen darf 😍

Die nächsten Tage, werde ich noch einiges hier veröffentlichen (Nachwort, Danksagung etc.), aber falls euch das nicht so sehr interessiert braucht ihr euch davon nicht verwirren zu lassen. Hier ist jetzt endgültig Schluss 😉 und es geht erst im Nächsten Teil weiter, also könnt ihr dann das Kommende gekonnt ignorieren. :)

Ich wünsch euch noch eine wunderschönen Tag und genießt den Sommer!
Eure Nannita ❤️

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt