Kapitel 37

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"Vorwärts!" Ich stieß dem Exorzisten vor mir mit der flachen Hand gegen den Rücken, die Klinge nur wenige Zentimeter von der Lücke zwischen seinen Schulterblättern entfernt. "Immer mit der Ruhe.", kicherte er und hob beschwichtigend seine knöchrigen Hände. "Du wirst mich jetzt zu Nicklas führen! Und ich rate dir, keine Tricks zu versuchen. Swist hat dir schneller die Kehle zerrissen als du bis drei zählen kannst."
Wie zur Bestätigung fletschte mein Höllenhund bedrohlich mit seinen Fangzähnen.

"Irgendwann wird er dir noch eine Last sein. Hahahaha. Darauf freu' ich mich schon." Ich verdrehte demonstrativ die Augen. Der hatte sie doch nicht mehr alle! Der war vollkommen wahnsinnig geworden. Wir folgten ihm durch einige verschlungene Gassen bis hin zu einer offenen Landstraße. Der Regen durchnässte meine Stoffschuhe und ließ meine langen schwarzen Haare im Gesicht kleben. Bei jedem Meter, den wir zurücklegten, quietschten meine triefnassen Schuhe unangenehm und Wasser sickerte durch meine Socken in die Zehzwischenräume.

Die Landstraße lag leblos da und durch den starken Niederfall wirkte sie noch grauer und düsterer als wahrscheinlich an anderen Tagen. Aber so war England nun einmal. Regen, Regen und nochmals Regen. Fröstelnd zog ich die Jacke etwas enger um mich, mit der anderen Hand immer noch den Dolch auf den Exorzisten gerichtet. Wir liefen am Standstreifen der sich endlos in die Ferne ziehenden Straße entlang, bis sich die Umrisse eines schwarzen SUV im Regen abzeichneten.

"Ich hatte doch gesagt: Keine Tricks!", fuhr ich den Exorzisten an, der nur kehlig lachte. "Das ist mein Wagen, Hexe. Oder denkst du, wir laufen den ganzen Weg bis zu seiner Residenz?" Erneut lachte er und schien sich über mein dummes Verhalten zu amüsieren. "Glaubst du etwa, ich lass' dich ans Steuer?!" Statt mir zu antworten lachte er eins seiner vollkommen irren Lachen.

Beim SUV angekommen, starrte ich misstrauisch die ganzen Knöpfe und Schalter an. Den Exorzisten hatte ich hinten direkt neben Swist platziert, der ihn nicht für eine Sekunde aus den Augen ließ. Das erste und letzte Mal, dass ich ein Auto gefahren hatte, war mit dem Wagen meiner Mutter auf einem leeren Parkplatz und ich war nicht besonders gut gefahren. Ich schluckte schwer, als ich auf dem Fahrersitz Platz nahm und den Sitz einstellte. Nach längerem Suchen fand ich dann auch den Knopf zum Einstellen der Seitenspiegel, bis ich den Mut fand, den Zündschlüssel im Schloss zu drehen. Der Motor heulte laut auf und der Wagen machte einen unvorhergesehenen Ruck nach vorne, ehe er wieder zum Stehen kam. Ich hatte die Kupplung nicht getreten und die Handbremse einfach gelöst.

Abgewürgt. Na toll. Das fing ja ganz super an.

Wo war noch einmal die Kupplung? Rechts oder links? Als ich sie gefunden hatte startete ich einen weiteren Versuch. Wieder kam der Wagen ins Ruckeln, fuhr danach jedoch langsam nach vorne. Pure Erleichterung erfasste mich. Der Exorzist witzelte derweil über meine nicht vorhandenen Fahrkünste, wobei er eine gruselige Fratze machte. Hektisch sah ich mich im Auto um und suchte nach dem Hebel für die Scheibenwischer. Der Regen prasselte unaufhörlich auf die Windschutzscheibe und machte mir so das Erkennen von Umrissen und Straßenverläufen unmöglich. Die Landschaft verwandelte sich in dunkle graue Kleckse, die immer wieder und wieder durch einzelne Regentropfen überschwemmt wurden.

"Verdammte Scheiße!", fluchte ich und ruckelte am nächstbesten Hebel herum, den ich zu fassen bekam. Gummi rieb über Glas und verursachte eine beißend helles Geräusch, als sich die Wischer in Bewegung setzten. Für den heutigen Tag hatte ich eindeutig genug Aufregung gehabt. Ich erhöhte den Druck auf das Gaspedal und fuhr immer schneller, bis ich das Gefühl hatte, den Wagen unter Kontrolle zu haben. So weit mir das möglich war. Tatsächlich dirigierte mich der Exorzist bereitwillig durch die Landschaft, bis eine mir altbekannte Straße in Sichtweite kam.

Ich war hier schon einmal gewesen. Als ich mit Nicklas' Hilfe aus dem Kerker der Jäger entflohen war. Ob er dort unten gerade versauerte? Schnell verwarf ich den Gedanken. Allein sein leidendes Gesicht würde mir die Luft zum Atmen nehmen, also verbat ich mir, so etwas auch nur zu denken. Ich musste mir meine Kraft aufsparen! Immerhin schuldete ich Nicklas mein Leben, also würde ich auch das Seine retten. Es dauerte auch nicht mehr lange, da kam das beeindruckende, riesige Gebäude auch schon in Sicht. Der Regen prasselte an der edlen Fassade ab und umhüllte das Gebäude wie einen seidenen Schleier. Wie konnte nur etwas so atemberaubend Schönes so grausame Dinge beherbergen? Sahen die Jäger und Exorzisten überhaupt diese Schönheit? Wahrscheinlich nicht.

ROT - Die Farbe meiner Tränen,  LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt