Kapitel 16

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Bereits am darauffolgenden Morgen empfängt mich ein lautes Stimmgewirre, als ich die Flügeltüren des Thronsaales öffne und einer versammelten Gruppe von Menschen gegenüberstehe, die sich zu streiten scheinen.

Irritiert sehe ich zu Santiago, um den sich die Menschen versammelt haben. Anscheinend versucht er ruhig auf sie einzureden, doch dies scheint kaum etwas zu bewirken. Die Menschengruppe besteht aus ungefähr drei Männern und zwei Frauen. Sie alle tragen sehr schlichte und unscheinbare Kleidung und abgetretene Schuhe.

Stutzend mustere ich die Menschen. Sie kommen mir merkwürdig bekannt vor...

"Ich bin mir sicher, dass wir alles klären können", höre ich Santiagos Stimme im selben Moment, in dem ich die Türe hinter mir zufallen lasse und schlagartig jegliches Stimmgewirr im Saal verstummt.

Alle Blicke richten sich auf mich und jetzt erkenne ich auch die Gesichter wieder, die mich bereits vor wenigen Tagen auf diese Art und Weise angesehen haben. Als hätte man sie verraten. Als hätte man sie in den brutalen Tod geschickt.

Und so sehr es auch schmerzt, das zuzugeben: Ich kann es ihnen nicht verübeln.

"War das etwa Euer Plan, Eure Majestät?" Iván del Santo geht mit schnellen Schritten auf mich zu. "Unser Volk zunächst mit Euren Lügen friedlich stellen und dann an das Königshaus ausliefern? War das Euer dreckiger Plan?!" Seine Hände schnellen zu seinem Gürtel, doch ehe er seine Waffe auf mich richten kann, wird er von zwei Wachen gepackt und gewaltsam zu Boden gedrückt.

"Schluss damit, Iván!", ruft Santiago, der auf einmal neben mir steht. "Ich habe Sie hierhergebeten, um in Ruhe über die gestrigen Vorkommnisse zu sprechen –"

Ein bitteres Lachen ertönt aus Iváns Kehle. "Sprechen? Ins Gefängnis werfen wollt Ihr uns! Für einen Anschlag, den wir nie begangen haben!"

"Du hast – was?", falle ich ihm ins Wort und starre fassungslos von Santiago zu Iván. "Diese Menschen haben den Anschlag nicht geplant, Santiago! Wir haben bereits feste Pläne für ihre Integration gemacht –"

"Feste Pläne?", wiederholt er ungläubig. "Integration? Lucía, du kannst doch ohne meine Zustimmung nicht von festen Plänen sprechen!"

"Sie hat uns betrogen!", zischt Iván und funkelt Santiago und mich kalt an. "Genauso wie Euch, Eure Majestät!"

"Ich habe niemanden betrogen!", stelle ich richtig und sehe Santiago an. "Ich habe dir gesagt, dass wir diesen Menschen helfen müssen! Ich dachte, das würdest du verstehen?"

"Und ich dachte, du hättest verstanden, dass diese Menschen gefährlich sind!", erwidert er und fasst mich bei den Schultern. "Lucía, du kannst dich nicht in solche Gefahren bringen! Schon gar nicht ganz auf dich alleine gestellt!"

"Du hast mich bisher doch immer aus politischen Angelegenheiten ausgeschlossen!", schreie ich wütend und funkle ihn an. "Immer hast du dich alleine in dein Arbeitszimmer zurückgezogen, hast nicht einmal darüber nachgedacht, nach meiner Meinung zu fragen... Aber das lasse ich nicht länger zu!" Mit schnellen Schritten gehe ich auf die Menschen aus dem Elendsviertel zu und gebe den Wachen ein Handzeichen. "Lassen Sie ihn los, sofort!"

"Lucía –", setzt Santiago mit zitternder Stimme an, doch ich schüttle den Kopf und drehe mich zu ihm um.

"Ich kann das nicht mehr, Santiago", sage ich leise. "Verstehst du das nicht? Mein Vater hat es geschafft, die Armut fast vollständig zu entfernen." Langsam nähere ich mich Santiago und blicke hinauf in seine Augen. "Wir können dieses Ziel gemeinsam erreichen! Aber ich brauche deine Hilfe dazu. Deine Hilfe und dein... Vertrauen." Heimlich, ohne, dass es jemand anders im Saal mitbekommt, greife ich nach seiner Hand und verschränke meine Finger mit seinen. Dabei nehme ich keine Sekunde lang meine Augen von seinen und ich kann allmählich sehen, wie sie klarer werden... und schließlich nachgeben.

Ein schmales Lächeln entsteht auf seinem Gesicht und sanft erwidert er den Druck meiner Hand. "Du hast keine Ahnung, wie schwer mir das fällt", antwortet er leise, "aber ich vertraue dir zum Wohle unseres Volkes."

Ich lächle. "Zum Wohle unseres Volkes", bestätige ich, drehe mich gemeinsam mit Santiago zu den Menschen aus dem Elendsviertel um und bitte sie, zu bleiben.

Ganze fünf Stunden lang sitzen wir gemeinsam im Thronsaal über die Aufzeichnungen gebeugt, die Iván und ich bereits zusammengestellt haben.

Der Plan ist, eine Verringerung der Steuern zu beschließen und stattdessen Geld von Santiagos und meiner Familie zu verwenden, um die Infrastrukturen des Elendsviertels zu modernisieren. Außerdem soll eine neue Schule errichtet werden, an der die Kinder zunächst allgemeines Wissen erlernen, um dann später die Schulen im Zentrum besuchen zu können.

"Auf diese Art und Weise können wir nicht nur eine gute Integration, sondern auch eine hervorragende Ausbildung und Berufschance für jeden bewirken", erkläre ich abschließend. "Die Erwachsenen werden die Möglichkeit erhalten, mit dem Arbeitsamt im Zentrum in Kontakt zu treten, sodass man ihre vorhandenen Fähigkeiten betrachten und jeden einer, für ihn geeigneten, Arbeitsstelle zuordnen kann." Erwartungsvoll halte ich die Luft an und blicke in die Runde.

Iván nickt anerkennend und auch die anderen Bewohner des Elendsviertels scheinen nicht gerade abgeneigt. Doch meine gesamte Aufmerksamkeit gilt Santiago. Denn ohne seine Zustimmung haben wir keine Chance diese gesellschaftlichen Änderungen zu vollziehen.

Vorsichtig blicke ich ihn von der Seite an und beobachte seine Augen, die immer noch über die Aufzeichnungen fahren.

"Innerhalb welcher Zeitspanne ist eine Verbesserung der Gesundheit zu ersehen?", fragt er, ohne die Blicke von den Papieren zu heben.

Ich greife nach einer Statistik und reiche sie ihm. "Sobald wir es geschafft haben, dass die Mehrzahl der Menschen einen Arbeitsplatz besitzen und die Kinder die Schulen besuchen, werden sich die Geldeinnahmen des Elendsviertels um das fast zwanzigfache innerhalb der nächsten Wochen verbessern," beschreibe ich das ansteigende Diagramm. "Je länger sie arbeiten, desto größere Kenntnisse und desto höhere Gehälter können wir vergeben. Und mit diesen besitzen sie die vermehrte Möglichkeit, sich Medikamente oder Krankenhausaufenthalte leisen zu können."

Die Bewohner des Elendsviertels heben überrascht die Köpfe.

"Selbstverständlich wird jegliche öffentliche Einrichtung, sowie auch Dienstleistungseinrichtungen den Bewohnern Zugang gewähren", füge ich hinzu und ergattere dabei ein Lächeln von Iván.

Santiago sieht mich von der Seite an. Unsicherheit liegt in seinem Gesicht. "Mein Vater wird mich dafür öffentlich hinrichten", flüstert er mir zu.

Lächelnd greife ich nach seiner Hand und drücke sie an mich. "Wie gut, dass nun du der König dieses Landes bist", antworte ich.

Er erwidert mein Lächeln. "Iván del Santo", sagt er dann und steht auf. "Ich denke, wir können meiner bezaubernden Frau danken, dass sie ihre politische Scharfsinnigkeit eingesetzt hat, um nun endgültig den Frieden in unser Land zu bringen."

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt